Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
sich zuerst orientieren und dann seine Vorräte auffüllen. Er schloss die Augen und stellte sich das Ruder seines Schiffs vor. Die Yacht reagierte, und er änderte ihren Kurs langsam nach Westen.
Er hatte die Finger schon an den Knöpfen seiner Hose, als sein Blick durch die Glasfenster der Doppeltür in die Kajüte fiel und ihn innehalten ließ. Die gerahmten Kunstwerke hingen schief an den Wänden, die eleganten Vorhänge waren in Fetzen gerissen, die Truhen umgekippt und ihr Inhalt überall verstreut. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, befand sich in einem heillosen Durcheinander, als sei die Yacht durch einen Taifun gefahren. Dennoch war er – zunächst – erleichtert. Es gab keine Leichen, keine Spuren von Blut, keine Spur seiner sterblichen Mannschaft. Er betete, dass sie irgendwo am Leben waren und sich nicht in den Tiefen seines Geists die Erinnerung an ihre Ermordung durch seine Hand oder andere verbarg.
Er mochte Stück für Stück den Verstand verlieren, aber er war kein Idiot. Zumindest noch nicht. Offensichtlich war er aus irgendeinem triftigen Grund über den Ozean nach London gezerrt worden. Aber von wem? Weil er ein Mitglied der Schattenwächter war, war bis vor Kurzem jeder Schritt Marks vom Rat der Ahnen kontrolliert worden.
Aus ihrem Bollwerk innerhalb des geschützten Inneren Reichs, das auf einer Ebene parallel zu der der sterblichen Bevölkerung der Erde existierte, entsandten die drei Ahnen – Aitha, Hydros und Khaos – Schattenwächter in alle Winkel des Erdballs, um die Interessen der Amaranthiner zu wahren. Die wichtigste Aufgabe der Schattenwächter war die Jagd auf die gefährlichsten Seelen der Menschheit; Seelen, die moralisch so verderbt waren, dass sie einen mächtigen, übernatürlichen Zustand erreichten, der als Transzendenz bezeichnet wurde. Solche extrem entarteten Seelen waren fähig, in das Innere Reich überzuwechseln und den Unsterblichen Zerstörung und Tod zu bringen. Jack the Ripper war eine solche Seele gewesen.
Und während der Jagd auf Jack, der nicht nur transzendiert, sondern – von Tantalos, dem Herrscher im Tartaros, rekrutiert – auch schnell zu einer unvergleichlichen Macht des Bösen geworden war, zu einem der Brotoi , der Priester des Tantalos, hatte Marks Schicksal als Unsterblicher eine gefährliche Wendung genommen. Allerdings war es seine eigene Entscheidung gewesen.
Mark, der unsterbliche Sohn von Kleopatra und ihrem römischen Geliebten Marcus Antonius, hatte jahrhundertelang darum gekämpft, sich von dem tragischen elterlichen Vermächtnis aus Leidenschaft und Tod zu befreien. Entschlossen, durch seine eigene Geschichte und Siege seine Bestimmung selbst in die Hand zu nehmen, hatte er sich in einem tollkühnen, heldenhaften Akt dazu hinreißen lassen, zu transzendieren. Dieses Opfer hatte den Schattenwächtern bei der Jagd auf Jack den Weg geebnet und Archer die Eliminierung des ungezügelten und bösartigen Brotos garantiert, den Tantalos als seinen Sendboten auf Erden auserwählt hatte – als den, der eine schlafende Armee von Brotoi erwecken und dabei helfen sollte, Tantalos aus seinem Gefängnis im Tartaros zu befreien.
Nein, er war nicht der erste Schattenwächter, der transzendiert war, um den Sieg über einen mächtigen Gegner sicherzustellen – aber ihn sollte nicht das gleiche Schicksal ereilen wie die anderen vor ihm: nämlich aus der Garde der Schattenwächter ausgeschlossen zu werden, eventuell dem Wahnsinn zu verfallen, am Ende aber garantiert gefangen genommen und hingerichtet zu werden. Denn so heroisch seine Tat auch war, konnte der Rat der Ahnen doch die gefährliche Bedrohung des Inneren Reichs, die er nunmehr darstellte, nicht bestehen lassen.
Mark hatte nur noch wenig Zeit, um seine unsterbliche Existenz zu retten und seinen Platz unter den Schattenwächtern wiederzuerlangen – eine Leistung, die ihn zu einer unvergleichlichen Legende in der Geschichte der Unsterblichen machen würde. Dieser Zeitraum wurde mit jedem Herzschlag und jedem Atemzug kleiner. Manchmal wisperten Stimmen und luden ihn ein aufzugeben, aber bisher war er stark geblieben und hatte sie hinter eine dicke, schalldichte Mauer in seinem Kopf verbannt.
Ah, aber sein verdammtes Glück schien zu enden. Er hatte jetzt drei Monate kostbarer Zeit verloren. Hatte sich währenddessen der schleichende Wahnsinn in ihm abgeschwächt – oder war er mächtiger geworden? Mächtiger als Marks Stärke, ihn zu bezähmen? Die kommenden Tage würden es
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