Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
blond und prachtvoll anzusehen, selbst in ihrem schlichten Trauerkleid, stand Arm in Arm mit ihrer faderen Schwester Evangeline, die, weil schrecklich kurzsichtig, zum Blinzeln neigte. Die jungen Frauen, durch einen Altersunterschied von weniger als einem Jahr voneinander getrennt, trugen beide den gleichen gelangweilten Gesichtsausdruck zur Schau. Mina wusste, dass sie ihr den Tod ihres Vaters verübelten, und sie konnte ihnen deswegen wirklich keinen Vorwurf machen. Sie hatten ihn nie kennengelernt, und seine Beerdigung hatte die Festlichkeiten ihrer Debütsaison gestört. Sie hoffte, dass sie einander in den folgenden Tagen vielleicht näher kommen würden.
Als Mina die Türschwelle überquerte, atmete sie tief die Frühlingsluft ein. Der Friedhof Highgate lag weit ausgedehnt in üppiger Pracht am Hang eines steilen Hügels. In der Ferne beteten steinerne Engel. Hohe Kreuze, einige von Efeu umrankt, erhoben sich über flachere Grabsteine. Ein plötzliches, metallisches Knallen erklang hinter ihr und erschreckte sie. Lucinda schnappte nach Luft und schaute sich um. Mina tat das Gleiche und beobachtete, wie der Sarg ihres Vaters Ruck für Ruck in ein klaffendes Loch im Boden hinuntergelassen wurde. Sie schloss die Augen, beinahe überwältigt von … Erleichterung.
Der Sarg, sobald er auf die nächste Ebene herabgesenkt worden war, würde von dort von den Totengräbern zu den Katakomben gebracht werden, wo er seinen letzten Bestimmungsort hinter einer verschlossenen Eisentür finden würde.
Für immer.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Lucinda ihren Ehemann anfunkelte. »Hätten sie nicht noch ein paar Sekunden warten können?«
»Es ist schon spät.« Ihr Onkel berührte die Krempe seines Zylinders und schaute zum Himmel empor. »Ich bin sicher, dass sie … äh, den lieben William gern vor Sonnenuntergang bestatten wollen.«
Den lieben William.
Mina verkniff sich ein Lächeln. Wenn ihr Vater doch nur die höfliche Äußerung hätte hören können. Er hatte nicht die beste Beziehung zu dem älteren Bruder seiner Ehefrau gepflegt. Lord Trafford war ebenso wie der Rest der gehobenen Gesellschaft der Meinung gewesen, dass der akademische Gelehrte weit unter dem Rang seiner Schwester stand. Aber Mina war dankbar, da Lord und Lady Trafford sich ihrer freundlich angenommen hatten. Ohne ihren Onkel und ihre Tante hätte sie nicht gewusst, wohin. Die Beschäftigung ihres Vaters mit allem, was mit Unsterblichkeit zusammenhing, und ihre weiten Reisen hatten Mina praktisch ohne einen Penny zurückgelassen. Lord und Lady Trafford hatten bereits ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, sie in der nächsten Saison, wenn ihre Trauerzeit beendet war, in die Gesellschaft einzuführen. Gegenwärtig gab es für Mina nichts Tröstlicheres, als in Gedanken in eine Welt mit Festen, Romantik, haufenweise Kleidern und all den anderen weiblichen Frivolitäten einzutauchen und Zuflucht zu deren Beständigkeit zu nehmen – alles Dinge, die ihr bisher im Leben verwehrt geblieben waren.
Sie versicherte den beiden: »Es ist alles gut. Bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.«
Die Kapelle der Nonkonformisten lag direkt gegenüber. Dort schien ebenfalls eine Beerdigung dem Ende zuzugehen. Gäste quollen aus der Tür der kleinen Kirche, eine unvermittelte, schwarze Woge.
Astrid ließ ein leises Schnurren hören. »Wer ist das?«
Minas Blick blieb an einem der Herren hängen. Er war nicht mit den anderen Trauergästen herausgekommen, sondern hatte abseits im Schatten eines kleinen Erkerfensters gestanden, als warte er auf jemanden. Hochgewachsen und breitschultrig, faltete er eine Zeitung zusammen, die er anscheinend gelesen hatte. Er trug einen Zylinder. Eine Brille mit blauen Gläsern verbarg seine Augen, aber nicht seine sinnlichen Lippen und das energische Kinn.
»Wo?«, fragte Evangeline blinzelnd. »Wer?«
Der Mann faltete die Zeitung noch ein weiteres Mal zusammen, dann klemmte er sich die schmale Rolle unter den Arm. Selbst aus dieser Entfernung konnte Mina die Intensität seines Blicks spüren. Seine volle Aufmerksamkeit schien gänzlich … verblüffenderweise … auf sie gerichtet zu sein.
»Ist das nicht Lord Alexander?«, überlegte ihr Onkel laut.
»Also, das weiß ich wirklich nicht«, antwortete Lucinda mit gedämpfter Stimme. Ihre Wangen überzogen sich mit einer dunklen Röte. Natürlich, begriff Mina, der gut aussehende Mann hatte nicht sie mit solcher Intensität angestarrt, sondern die schöne
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