Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
anderen Mann, nur weil dieser Mann … Oh, seine Gedanken verwischten das ganze schreckliche Bild von den beiden zusammen in irgendeinem dunklen Zelt auf einem Berg, während ihr Vater nichts ahnend im Zelt nebenan schnarchte. Wie ein schmollender Junge wollte er seinen Zylinder an beiden Seiten packen und das ganze verdammte Ding über seinen Kopf ziehen, um sich selbst zu bemitleiden. Er hasste die Schwäche. Er hasste die ganze verdammte Vorstellung von ihr mit einem anderen Mann. Gott, er hatte sich noch nie zuvor so dumm benommen.
Frauen. Pah. Wer brauchte sie schon?
Er.
Verdammt, er brauchte Mina.
»Wohin fahren wir?«, fragte er verdrossen. Seine Hand glitt zu ihrem Oberschenkel.
Sie schlug seine Hand wieder weg. »Wenn meinem Vater das Geld ausgegangen ist, könnte er durchaus nach London zurückgekehrt sein. Und wenn es so ist, denke ich, ich weiß, wohin er sich wenden würde, um mehr zu bekommen.«
»Wohin?«
»Es gibt da einen Mann im East End. Er sammelt Dinge.«
»Dinge? Welche Dinge?«
»Du wirst schon sehen. Falls er noch da ist. Ich weiß es nicht. Es ist lange her.«
Steif und stumm saß er neben ihr. Sie stützte ihren Unterarm auf die Armlehne der Sitzbank. Er hatte sie wütend gemacht. Natürlich hatte er das. Er hatte sich selbst ebenfalls wütend gemacht.
Der Hansom rumpelte durch den Verkehr und durch Wolken von Staub und drückende Hitze. Mindestens tausend Mal hielten sie an und rollten weiter, bevor der Wagen endlich vor einem Lagerhaus stehen blieb.
»Du kannst hier warten, wenn du möchtest«, sagte Mina.
»Ich lasse dich nicht aus den Augen.«
»Halt einfach die Hände in den Taschen, wenn du so freundlich sein willst«, befahl sie, und ohne auf den Kutscher zu warten, entriegelte sie den Wagenschlag und stieg aus. »Es wird niemand verprügelt.«
Er folgte ihr zur Hinterseite des Lagerhauses und eine Treppe hinauf zu einem Eingang im ersten Stock. Sie drückte auf einen kleinen schwarzen Summer. Dann warteten sie schweigend, aber niemand antwortete. Sie betätigte erneut den Summer. Nichts.
»Ich kann nichts hören«, erklärte sie. »Vielleicht funktioniert der Summer nicht.«
Mark hämmerte mit der Faust gegen das Holz. Das führte ebenfalls zu keiner Reaktion.
Mina drehte den Knauf mit beiden Händen und stieß gegen die Tür. Ein überraschter Ausdruck erhellte ihr Gesicht, als sich die Tür öffnete.
»Lass uns hineingehen.«
»Oh, ich stimme dir voll und ganz zu.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich gehe gern ungebeten in fremde Lagerhäuser im East End, wo niemand die Tür öffnet. Noch besser sind bloß verlassene Häuser und Krypten, aber da war ich in den letzten Wochen schon.«
Sie sah ihn erheitert an, was Mark als ein außerordentlich gutes Zeichen dafür wertete, dass sie ihm verzeihen würde, dass er Maskelyne einen Fausthieb verpasst hatte. Wenn er sich jetzt zusammenriss, nicht auf irgendjemand anders einprügelte oder durch die Transzendierung den Verstand verlor, hatte er vielleicht eine Chance auf eine weitere Liebesnacht.
»Oh, ja«, hauchte Mina. »Das ist immer noch Mr Thackerays Lagerhaus.«
Marks Augen weiteten sich. Alte dorische Säulen lehnten in den Ecken – fünf insgesamt, alle unterschiedlicher Herkunft, wie Mark an ihrer Größe und Beschaffenheit erkannte. Mr Thackeray hatte augenscheinlich auch ein Interesse an exotischen Tieren. Während sie weiter in das Lagerhaus vordrangen, klopfte Mark einem ausgestopften Eisbären gegen die Brust und wackelte an dem vergilbten Reißzahn eines Berglöwen. Überall auf den Regalen hockten Tiere. Zwei fliegende Apparate, mit Flügeln und Motoren und Bremsklappen, baumelten von der Decke.
Mina zeigte in der Dunkelheit auf eine riesige weiß-goldene Kutsche. »Das war immer mein Lieblingsstück. Ich habe dann so getan, als sei ich eine Prinzessin, während Mr Thackeray und mein Vater über ihre Geschäfte geredet haben.«
Mark bückte sich und hob den Deckel eines ramponierten Sarkophags.
Mina fuhr fort: »Mark? Kommst du?«
»Ich schaue nur nach, ob es jemand ist, den ich kenne.«
Plötzlich wehte ein Geräusch aus der Dunkelheit heran … ein leises, gequältes Stöhnen.
Mina erstarrte. »Hast du das gehört?«
»Ja.« Er hatte es gehört. Und es gefiel ihm nicht. Er schob sich an einem Fass voller Pferdehufe vorbei, um an ihrer Seite zu sein.
Sie rief: »Mr Thackeray? Sind Sie das?«
Etwas zischte aus der Dunkelheit auf sie zu – ein riesiger Ghul mit offenem Maul. Mark packte Mina
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