Shakespeares ruhelose Welt
Mit dieser Reliquie wird das Wort «Schafott», so wie Shakespeare es einsetzt, zu einer Bühne, auf der sich Stücke und Hinrichtungen nicht nur im Sinn einer sprachgeschichtlichen Verschmelzungverbinden, sondern auch in der Erkenntnis, dass in beiden Ereignissen das gleiche Publikum den gleichen Schauder suchte. Szenen, in denen getötet, Glieder oder Köpfe abgeschlagen werden, waren damals üblich, und man fand Gefallen daran, im Leben wie auf der Bühne. Wenn sie auf dem Weg ins Theater über die London Bridge liefen, kamen die Zuschauer an aufgespießten Köpfen Enthaupteter vorbei. Kein Wunder, dass auch diese Erfahrung den Weg auf die Bühne fand.
Zwingender als jedes andere Symbol führt uns Oldcornes Auge zur religiösen Spaltung des Landes und zu den Opfern, die diese forderte. Ebenso demonstriert es uns die Kraft der Reliquien zur Stärkung des Glaubens. Für jene, die am alten, dem katholischen Glauben festhielten, repräsentierte dieses Auge, konserviert und in kostbares Metall gefasst, den Mut derer, die bereit waren, für ihren Glauben das höchste Opfer zu bringen. Der Zweck dieser Reliquie war die Verehrung Oldcornes; alle sollten bewegt werden, seinem Vorbild bereitwillig zu folgen. Kein Text kann derart drängend flehen wie dieses Objekt. In gewissem Maß werden wohl auch wir den Blutrausch von Shakespeares Zuschauern verstehen können, doch nur wenige von uns werden so ohne Weiteres davon ausgehen wie sie, dass es nicht nur bewundernswert, sondern geboten sei, für seinen Glauben auch zu sterben – viele hatten das kurz zuvor bereits getan, und in diesem so bitter zerrissenen England würden es bald noch mehr Menschen tun. Es war eine Welt, die uns und unserem westlichen Denken sehr fremd ist – denken wir nur daran, wie ratlos uns all jene machen, die heutzutage bewusst den Märtyrertod suchen.
Als Shakespeares Stücke in der Gestalt des First Folio von 1623 zum ersten Mal erschienen, wurden sie ihrerseits zu einem Objekt, das schließlich sogar ohne Beschränkungen rund um den Globus reproduziert werden konnte. Insofern schließt sich der Kreis auf tröstliche Weise: Mit dem letzten in diesem Buch vorgestellten Objekt – der Robben Island Bible – wird Shakespeares Text zu einer Reliquie, in diesem Fall zum Zeugnis für den langen Kampf gegen die Apartheid. Keiner der Gefangenen von Robben Island hat das voraussehen können. Doch wenn wir die Passagen sehen, die sie beim Lesen während ihrer Haft angestrichen haben, verändern sich jene für uns. Denn wir wissen dann, dass auch diese Häftlinge sie während ihrer Gefangenschaft lasen. Die Complete Works of William Shakespeare sind, getarnt als ein heiliges Buch der Hindus, zu einem sprechenden Objekt geworden.
Von Napoleon stammt die berühmte Feststellung, dass wir, um einen Menschen zu verstehen, die Zeit verstehen müssen, in der er oder sie zwanzig war. Dieses Buch möchte nicht einzelne Menschen verständlich machen, sondern eine ganze Generation – Menschen, die um 1560 in England geboren wurden. Als diese Generation zwanzig wurde, stand nicht nur England vor neuen Realitäten: In ganz Europa war das Bewusstsein im Fluss. Überall hatten religiöse Konflikte ihre Narben hinterlassen, hatten Staaten zerrissen, zu gewaltsamen Bürgerkriegen geführt. In den 1580er Jahren war keineswegs absehbar, wie diese Konflikte enden würden und ob sie überhaupt zu beenden waren. Die Zentren der politischen und wirtschaftlichen Macht verschoben sich von Mitteleuropa und aus dem Mittelmeerraum hin zum Atlantik, hin zu einer Welt, die, wie ihre aufgeschreckten Gegner fürchteten, von nur einer militärischen Supermacht beherrscht schien – von Spanien.
Und über Europa hinaus? Unsere Welt, hat der französische Essayist Michel de Montaigne in den 1580er Jahren geschrieben, «hat gerade eine andere gefunden, und wer kann sicher sein, dass diese die letzte ist von ihren Brüdern?» Spanier und Portugiesen, Franzosen, Holländer und Engländer – sie alle waren in Länder vorgestoßen, von denen die Europäer zuvor nichts wussten. Und sie hatten Völker und Königreiche gefunden, die sie nicht nur verwirrten und ängstigten, sondern die alle ihre Gewissheiten darüber erschütterten, was denn die Menschheit sein sollte.
Wenn dies unsere neuen «Brüder» waren, wie viele andere gab es noch? Und wenn Othello Desdemona von Kannibalen erzählt, «die einander schlachten,/Anthropophagen, Völkern, deren Kopf/Wächst unter ihrer Schulter» ( Othello
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