Shakespeares ruhelose Welt
wurde.
Über das Leben von A. N. wissen wir gar nichts. War er ein schicker junger Aristokrat, war sie eine teure Hure? Etwas allerdings, denke ich, können wir wissen, nämlich wie A. N. gesehen werden wollte. So ist, was von ihr oder ihm überlebt, nicht, wie Larkin behaupten würde, Liebe, sondern ein bestimmter Anspruch, ein Bestreben. Denn so viel steht fest, wer immer sie oder er war, A. N. wollte modisch und elegant wirken und ließ sich das auch gerne etwas kosten. Der Ursprung solcher Eleganz, von aufreizenden Kleidern und mondänem Verhalten, lag jedoch nicht in England, sondern in Italien. Wenn wir – in Kapitel Drei – diese vor langer Zeit verlorene Gabel betrachten, sehen wir, was Besitzer oder Besitzerin sein wollten – ein Ausbund milanesischer oder venezianischer Manieren und Lebensart. Wie die französischen Zigaretten, auf die englische Studenten der 1960er Jahre so scharf waren, so hat sich A. N. mit dieser Gabel in eine Welt der Kultur und Verfeinerung versetzt, an der gewiss tausend andere Zeitgenossen auch gerne teilgehabt hätten. Eine Reise nach Italien allerdings war Privileg der Wenigen. Doch schon für einen Penny konnte man sich, wenn Viel Lärm um nichts gespielt wurde, nach Messina versetzen lassen, in die Gesellschaft junger Adliger aus Florenz und Padua: Ein Gang ins Theater war ein Ausflug ins Traumland von A. N.
Auch der Stoßdegen, der eines Nachts am Ufer der Themse verloren ging (Kapitel Fünf), ein ebenfalls todschickes Accessoire italienischer Provenienz,demonstriert für alle sichtbar Status und Stil; wie die Gabel zwang auch dieser Degen zu bestimmter Handhabung, zu Bewegungen, mit denen man, hatte man sie erst eingeübt, allseits bewundert wurde. Und kam es hart auf hart, dann hatte sich der Besitzer dieser erstklassigen Waffe zudem noch eine neue Art des Fechtens angeeignet – fatal für die nur Hiebwaffen führenden jungen Londoner, wie im Bühnen-Verona von Romeo und Julia vorgeführt. Ob es ums Essen ging oder um Straßenhändel, mit Objekten wie diesen erwies man sich als der Mann, die Frau von Welt, die man unbedingt sein wollte.
Objekte wie diese reißen die Grenzen nieder, die wir heute fast automatisch ziehen, Grenzen nämlich zwischen Bühne und wirklichem Leben, zwischen dem Publikum, den Schauspielern und der Stadt. Sie bringen die Handlung zunächst auf die Bretter, dann auf die Straße. Stoßdegen wie jener verlorene, der in Kapitel Fünf vorgestellt wird, haben Hamlet und Laertes auf der Bühne fechtend gehandhabt, doch die Schauspieler waren Experten und wussten Waffen auch auf der Straße zu führen. Auf der gleichen Bühne wurden, wenn dort kein Theaterspiel stattfand, Wettbewerbe zwischen Berufsfechtern durchgeführt, um auch in vorstellungsfreien Zeiten Einnahmen zu generieren. Viele Männer im Publikum trugen ähnliche Waffen, und sie würden auf dem Heimweg ohne Weiteres blankziehen – um sich zu verteidigen, aber auch wenn sie Händel suchten. Viele Raufbolde wurden verhaftet, manche fanden den Tod. Das zeitgenössische Italien war, wie das antike, eine Welt, die Shakespeares Publikum nicht nur besuchen wollte, man wollte sie sich aneignen, und wenn man sich der neuen Dinge nur bemächtigte, rückte diese Möglichkeit dann nicht in atemberaubende Nähe?
Noch eine andere Welt gab es, in die zu reisen das Theater oder, wie im Eingangszitat, der Chor das Publikum einlud: eine Welt, die nicht weniger er regend als das zeitgenössische Italien, aber viel schwerer zu erobern oder auch nur kennenzulernen war – das mittelalterliche England. Doch um wirkliches Kennenlernen ging es auch gar nicht, denn das vergangene England war ein Land der Imagination und des Stolzes, ein Land, dem man es unbedingt gleichtun wollte. Die Herausbildung des neuzeitlich elisabethanischen England ging Hand in Hand mit der Erfindung eines älteren. Im Augenblick einer nationalen Krise, während der Bedrohung durch Spanien, während des irischen Kriegs in den 1590er Jahren, waren Schauspiele, die den Blick auf die englische Geschichte richteten, der große Hit, Lebensstoffder neuen kommerziellen Theater, Schlüsselelement eines neuen Gemeinschaftsbewusstseins. Solche Stücke legten den Grund für Shakespeares Ruhm und Vermögen.
Hätte sein Theater auch nur die Helme fassen können, «wovor bei Agincourt die Luft erbebte»? Nein. Die Helme im Globe waren Requisiten. Aber auch darauf kam es nicht an, denn den einzigen Helm, der wirklich zählte, konnten die Zuschauer in
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