Vor Nackedeis wird gewarnt
Das Haus am Meer
Das Haus war weiß, obwohl die Farbe hier und da von dunklen, feuchten Flecken unterbrochen war, und unter dem runden Fenster an der Seeseite hatte der weggebrochene Putz auch einen Teil des Mauerwerks freigelegt. Die Fenster liefen gotisch-spitz zu, die Rahmen waren stahlblau und grell gestrichen und schon von weitem zu sehen. Die spitz zulaufenden Fenster und die grau-weiße Fassade gaben dem Haus etwas Kirchliches, und es wirkte traurig, wie es einsam dort am Strand stand, fast wie ein Pfarrhaus, dessen Kirche irrtümlich verlegt worden war. Über der Eingangstür hing ein silbern angestrichener Rettungsring, auf dem in schwarzen Lettern der Name des Hauses zu lesen stand: Haus Seeblick.
Ursprünglich, während der Herrschaft einer der vielen Könige namens Georg, hatte es als eines von vielen Häusern der Küstenwache als Unterkunft gedient. Von den beiden altertümlichen Wachtürmen aus hatten im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Zollwachen mit Adleraugen die Curlew Bay beobachtet und mehr oder weniger ihr untertäniges Bestes getan, die Küstenbewohner daran zu hindern, Rum, Tabak und andere schöne Dinge zum Gefallen der mehr oder weniger untertänigen Junker und Geistlichen von Kent einzuschmuggeln.
Aber die Zollwachen hatten wenig Glück.
Tatsächlich versagten sie eigentlich vollkommen.
Es ist noch niemandem auf dieser Welt gelungen, einen echten Mann aus Kent daran zu hindern, zu schmuggeln oder zu wildern.
Mr. Harry Bowden jedoch war an historischen Einzelheiten nicht interessiert. Auch die bewegte Vergangenheit seines Hauses machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Er stand auf der Terrasse an der Vorderseite des Hauses und betrachtete sein Anwesen absolut sachlich und von der praktischen Seite aus.
Mr. Harry Bowden war ein stämmiger Mann, der trügerisch teilnahmslos wirkte. Sein Gesicht glich einem Teigpudding, der durch einen Knopf unterbrochen war - seiner Nase. Wenn er schwerwiegende Überlegungen wälzte, dann nahm das untere Ende dieser Nase die unmöglichsten Formen an, er preßte die Lippen aufeinander, und seine von starken Augenbrauen überschatteten schwarzen Augen richteten sich auf den Gegenstand dieser tiefschürfenden Gedanken. Er sah ein bißchen blöde aus, und schien eher einfältig zu sein.
Da aber Torheit und Einfältigkeit Hand in Hand mit der Unfähigkeit gehen, zu betrügen, hielten sämtliche seiner Klienten ihn für einen ehrlichen Mann. Keiner dieser Kunden entdeckte hinter dem Puddinggesicht den messerscharfen, berechnenden Verstand Mr. Bowdens.
Er war Grundstücksmakler und dazu einer der geschäftstüchtigsten und schlauesten Makler in ganz Dymstable.
Er zog seine Nase ein paar Zentimeter herunter und ließ sie dann wieder los. Sie schnellte zurück wie ein Gummiband.
»Hm«, meinte er verdrießlich.
Neben ihm stand ein junger Mann mit blassen Augen und einem wenig imponierenden Schnurrbart, der sich unbehaglich hin und her wand. »Nun, was meinen Sie?« fragte er schließlich nervös.
Als bei Mr. Cecil Carruthers in Richmond die Nachricht vom Tode seiner Tante eintraf und er erfuhr, sie habe ihm ein kleines Anwesen an der Küste von Dymstable hinterlassen, kannte die Freude und Aufregung zunächst keine Grenzen. Bis er Mr. Harry Bowden getroffen hatte, war er fest davon überzeugt gewesen, ein Haus am Strand des sonnigen Dymstable mit einem herrlichen Ausblick auf das Meer und allem erdenklichen modernen Komfort sei eine Gelegenheit, die sich kein potentieller Käufer entgehen lassen könne. Jetzt aber, während Mr. Bowdens Nase zum drittenmal in ihre ursprüngliche Form zurückschnappte, begann Cecil völlig den Mut zu verlieren.
»Es ist feucht«, meinte Mr. Bowden.
»Ja? Naja, hm, es muß doch einfach feucht sein, oder?« fragte der unglückliche Mr. Carruthers völlig hilflos.
»Ihre Tante besaß zwar ein Haus, aber nur sehr wenig bares
Geld. An dem Haus ist nichts mehr getan worden. Keine Reparaturen und so. Sehen Sie sich doch den Außenputz einmal genau an. Die feuchten Stellen müssen auch weg. Wollen Sie das ganze Geld für diese Arbeiten anlegen - oder soll ich versuchen, den bestmöglichen Preis für das Anwesen herauszuholen?«
Mr. Cecil Carruthers zuckte mit den Wimpern und fuhr mit der Hand über seinen strähnigen, wenig imponierenden Schnurrbart. »Ich habe einfach kein Geld für solche Ausgaben. Ich möchte aus diesem Haus ein kleines Nebeneinkommen ziehen. Die meisten der Häuser hier in dieser Gegend werden so
Weitere Kostenlose Bücher