Shakespeares ruhelose Welt
Buch, an den Erfahrungen seines Publikums teilzuhaben – einige Tausend Männer und Frauen werden es gewesen sein, die damals, als Shakespeares Stücke zum ersten Mal aufgeführt wurden, die Theater des elisabethanischen und des jakobäischen London besucht haben. Für sie hat er geschrieben. Was war ihre Welt?
Die wichtigsten Theater in Shakespeares London.
Schon dass einfache Männer und Frauen in den 1590er Jahren überhaupt ein Theater besucht haben, zeigt, wie sehr sich ihre Welt von der ihrer Eltern unterschied. Das kommerzielle Theater, wie wir es heute kennen, war damals etwas völlig Neues und als Neuerung in der Massenunterhaltung so umstürzend wie das Fernsehen in den 1960er Jahren. Als Shakespeare einJunge war, fanden die meisten Theaterproduktionen im Haus eines Adligen oder in einem königlichen Palast statt; oder aber in einem großen öffentlichen Raum, etwa in der Gildhall von Stratford. Räume, die eigens für Bühnenaufführungen konzipiert waren, gab es nur wenige. Die erste als Theater gebaute Spielstätte wurde in London 1576 eröffnet; Shakespeare war damals zwölf Jahre alt. Diese Häuser dienten einem neuen, einem geschäftlichen Zweck und wenn wurden auch nach einem neuen Finanzierungsmodell betrieben. Als Shakespeares Karriere begann, in den 1590er Jahren, war das kommerzielle Theater mit Sitzen (oder Stehplätzen) zu diversen Preisen und, vor allem, ausgerichtet am Geschmack aller Klassen der Gesellschaft bereits ein voll entwickeltes, eingeführtes Geschäftsmodell. Dieses und sein Publikum prägten die gezeigten Stücke.
Wie in den 1960er Jahren das Fernsehen, so zogen um 1600 die Theater einige der damals größten literarischen Talente an. Einem jungen Mann, der das Schreiben zu seinem Geschäft machen wollte, öffneten sich ganz neue Wege; diese Autoren schrieben tatsächlich mit Blick aufs Publikum. Alle, die Eintritt bezahlt hatten, hofften, in den Stücken Menschen agieren zu sehen, die waren wie sie selbst. Darum, und ganz anders als im aristokratischen Drama des klassischen französischen Theaters, treten im englischen Drama alle möglichen Menschen auf: Träger und Totengräber, Wachsoldaten auf ihren Posten, Kerle, die einfach auf den Straßen herumlungern. Solche Gestalten waren im Publikum. Sie waren auf der Bühne.
Auf dem Kontinent gab es solche Theater nicht. Doch in ihrer äußeren Gestalt waren diese sehr englischen Gebäude ein Echo einer anderen, weit entfernten Welt: Die modernen Londoner, die diese neuen Stätten der Unterhaltung schufen, hatten die Theater des alten Rom im Sinn – darum gaben sie ihnen auch den alten Namen theatre , in bewusster Nachahmung der klassischen Welt. Es war ein Gebäudetyp, wie er seit über tausend Jahren kaum mehr gebaut worden war, gleichwohl nicht unbekannt, denn da waren ja die vielen Relikte in Italien und in Südfrankreich: Reisende hatten sie beschrieben, Stiche zeigten Bögen und Ruinen. Die Londoner playhouses allerdings wurden nicht im streng römischen Stil errichtet, nicht aus behauenen Steinen, aus Holz vielmehr und Gips. Stets besucht, wer ins Theater geht, andere Welten. Doch wer sich in eines dieser neuen Freilufttheater begab, der beanspruchte allein schon dadurch – in gewissem Maß zumindest – einen Platz in der klassischen Tradition: Für zwei Stunden lebte man in den Geschichten,manchmal auch unter den Helden der antik-mediterranen Welt. Einen Nachmittag lang konnte man beides sein, alter Römer und zugleich moderner Engländer, moderne Engländerin. Die gleiche Vorstellung steht hinter den Triumphbögen, von denen Kapitel Achtzehn handelt. Und weil es damals jedermann für erwiesen hielt, dass Julius Caesar höchstpersönlich den Tower of London gebaut hatte, war, was Shakespeares Londoner im Sinn hatten, keineswegs so abwegig, wie es uns Heutigen scheinen mag.
Es ist Grundbotschaft aller Werbung, dass wir zu denen werden können, die wir sein wollen, wenn wir nur die richtigen Dinge besitzen. Das galt um 1600 nicht weniger als heute. So wissen wir beispielsweise aus Texten und Erinnerungen, aber auch von den Schauplätzen der Stücke Shakespeares, wie sehnsüchtig viele Elisabethaner vom zeitgenössischen Italien schwärmten, wie sehr sie es nachahmen wollten. Wir können dieser Sehnsucht noch viel intensiver nachspüren, wenn wir eine damals modische, teure Gabel betrachten, stolz mit den Initialen A. N. versehen, die im Rose Theatre verloren ging und die 300 Jahre später unter dem Schutt gefunden
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