Shanghai Love Story
Händen über die Stirn. Während die andere die Geräte vorbereitete, spielte sie mit Annas Haar. Anna schloss die Augen und stellte sich vor, sie läge auf einem sauberen Bett in einem Krankenhaus in Melbourne.
Die zweite Schwester kehrte mit einer Tube Gel zurück, von dem sie etwas auf Annas Unterleib auftrug. Dann schob sie den Ultraschallstab darüber hinweg.
»Da ist es«, sagte sie.
Angstvoll riss Anna die Augen auf. Sie hatte es mit ihren Wünschen und ihrer Willenskraft also doch nicht wegzaubern können. Auf dem flackernden Bildschirm pulsierte ein kleiner weiÃer Punkt in einem Meer aus Grün.
»Was ist das?«, fragte Anna.
»Das Baby«, sagte die Schwester.
Annas Herz lief über.
Kapitel 26
Das Teehaus in den Yu Yuan-Gärten schien aus den Seerosen zu erwachsen. Sein uraltes gebogenes Dach aus zerbröckelnden Tonschindeln schimmerte in dem gleichen sumpfigen Grün wie das Wasser. Die Motive der geschnitzten Holzfenster wirkten wie die knorrigen Stängel der Lotusblumen. Wenn nicht die Schwärme von chinesischen Touristen gewesen wären, die auf den Brücken für die Kameras posierten oder von dem Verkäufer lautstark Getränke und Filme für die Fotoapparate verlangten, hätte man seinen grünen Tee aus den fingerhutgroÃen Tassen trinken und glauben können, man sei in die Vergangenheit gereist.
Laurent goss Anna Tee nach. »Die dritte Tasse ist die Beste, sagt man.«
»Mmm?«, murmelte Anna geistesabwesend. Sie zog es vor, wenn er den Mund hielt. Während der Fahrt zum Teehaus war er so taktvoll gewesen und hatte geschwiegen. Es war Annas Vorschlag gewesen, hierherzufahren. Sie wollte noch nicht nach Hause.
»Anna. Lass die Abtreibung nicht hier durchführen. Lass es in Australien machen. Es ist sicherer. Du müsstest Chenxi nichts davon sagen. Niemand würde etwas wissen.«
Wütend trank Anna einen Schluck Tee. Am liebsten hätte sie laut geschrien. »Warum glauben alle, mir immer vorschreiben zu müssen, was ich zu tun habe? Habe ich ein Schild auf dem Rücken, auf dem steht: âºIch bin ein dummes kleines Mädchen â bitte sagt mir, was ich tun soll!â¹? Was, wenn ich das Baby behalten will? Was dann? Was, wenn ich Chenxis Kind haben will, wenn wir heiraten und ich ihn mitnehme nach Australien und wir glücklich bis ans Ende unserer Tage leben? Das würde dich mächtig ärgern, was?«
Laurent schüttelte den Kopf. »Du brauchst kein Schild auf dem Rücken. Man merkt es an jedem Satz, der aus deinem Mund kommt. Du bist einfach zu behütet und zu naiv. Du kannst dir dieses Märchen nicht aus dem Kopf schlagen, nicht wahr? Muss ich es aussprechen? Lass ihn los. Vergiss ihn! Begreifst du denn nicht? Du hast schon genug Ãrger. Und er auch.«
»Warum? Damit ich heulend zu dir gelaufen komme? Nie im Leben!« Sie hatte gut gezielt. Laurent erbleichte und schaute in seinen Tee. »Der einzige Mensch, den ich am liebsten nie wieder sehen möchte, bist du!« Anna sprang auf, wobei ihre Teetasse umfiel. Ein kleines Rinnsal Tee tropfte auf Laurents Hosen, während er ihr nachschaute, wie sie sich ihren Weg durch das überfüllte Teehaus bahnte.
Ihr Vater war zu Hause, als Anna das Apartment erreichte. An dem grimmigen Ausdruck in seinem Gesicht konnte sie erkennen, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte, sich an ihm vorbei in ihr Zimmer zu schleichen.
»Wo warst du?«
Anna seufzte: »Tee trinken.«
»Werde nicht frech, junge Dame. Wenn es dir gut genug geht, um das Apartment zu verlassen, dann geht es dir auch gut genug, um deinen Kurs an der Universität wieder aufzunehmen. Ich habe dort angerufen, und deine Kursleiterin sagte mir, dass du die Aufgaben, die sie dir geschickt hat, noch nicht eingereicht hast. Ich habe genug davon, dass du deine Zeit verplemperst, Anna. Du hast mir versichert, dass du Chinesisch studieren würdest, und wieder einmal hast du mich enttäuscht. Du lässt es zu, dass dir dein Leben unter den Händen weggleitet. Du lässt alle Gelegenheiten verstreichen. Du bist kein dummes Schulmädchen mehr. Es ist Zeit, erwachsen zu werden und endlich etwas Ernsthaftes zu tun!«
In Anna ballte sich ein fremdes Gefühl zusammen. Es schob sich nach oben und summte in ihrem Kopf. Worte formten sich in ihrem Mund. Worte, die â einmal ausgesprochen â nicht mehr zurückgenommen werden
Weitere Kostenlose Bücher