Shanghai Love Story
Kapitel 1
Die Ampel an der Kreuzung der Huai Hai- und Hua Shan-StraÃe schaltete auf Grün, und mehr als hundert Radfahrer stürzten sich unter energischem Klingeln vorwärts. Eine alte Frau sprang mit einem Satz zurück auf den Gehsteig, um nicht überfahren zu werden.
Von einer Haltestelle kurz hinter der Kreuzung fädelte sich ein zerbeulter weiÃer Bus in den Verkehr ein. Ein junger Radfahrer löste sich aus der Masse der anderen, spähte mit zusammengekniffenen Augen durch den Nebel der Abgase und trat kraftvoll in die Pedale. Der Bus war jetzt ächzend auf die Fahrspur eingebogen, und der Radfahrer fuhr schneller und immer schneller, bis er auf gleicher Höhe mit dem Rückfenster war. Er fuhr noch ein Stückchen näher, beugte sich zu dem Bus, streckte den Arm aus und krümmte die Finger. Gerade als der Busfahrer in einen höheren Gang schaltete und der Bus Fahrt aufnahm, packte der junge Mann den Rahmen des offenen Fensters.
Chenxi stellte beide FüÃe auf die rostige Querstange seines Fahrrades und lieà sich durch die dampfenden StraÃen von Shanghai fahren. Sein dicker, schwarzer Pferdeschwanz tanzte im Wind.
An der Ecke der Yangdang Lu-StraÃe, wo vom Konservatorium aus Musik durch das mit Schattenflecken gesprenkelte Licht unter den Platanen zog, wurde der Bus langsamer, weil er links abbiegen wollte. Chenxi wartete bis zur allerletzten Sekunde, ehe er sich abstieÃ. Die FüÃe immer noch auf der Stange, rollte er die Sackgasse bis zur Hälfte hinunter. Dann kam das Fahrrad schwankend zum Stehen. Chenxi kicherte. Das nächste Mal würde er sich ein bisschen fester abstoÃen; vielleicht schaffte er es dann bis zum Ende der StraÃe.
Chenxi setzte einen Fuà auf den Asphalt. Er kramte in der Tasche seiner ausgebeulten Hose, die aus Restbeständen der Armee stammte, und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Mit tuschebeklecksten Fingern strich er es glatt. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. In dieser ruhigen StraÃe gab es nur ein Gebäude, wo ein Ausländer wohnen konnte. Er verengte die Augen und betrachtete den glänzenden Turm, der den Fuxing-Park überblickte. Schwarze Tore, frisch gestrichen, entmutigten jeden Einheimischen, der ein Näherkommen wagen würde. Ein Wachmann saà neben der Toreinfahrt und schlürfte grünen Tee aus einer Nescafé-Dose.
1989 lebten Ausländer in China ganz anders als die Einheimischen. Das lag nicht nur an ihrem offensichtlichen Reichtum, sondern auch an dem Umstand, dass sie sich niemals wirklich unter die Leute mischten. Sie fuhren in ihren glänzenden Autos herum wie Goldfische in ihrem Glas. Sie residierten hoch über den StraÃen der Stadt. Chenxi war neugierig auf das, was hinter dieser schimmernden Fassade lag.
Er strich sich den schweiÃnassen Pony aus der Stirn. Erst gestern hatte ein deutscher Student gesagt, dass er mit seinem langen Pferdeschwanz und den ausgebeulten, khakifarbenen Hosen selbst aussah wie ein Ausländer, zumindest wie ein Chinese, der im Ausland lebt oder vielleicht sogar wie ein Japaner. Chenxi schob das Fahrrad vorwärts. Mal sehen, wie japanisch er aussehen konnte.
»He!«, rief der Wachmann, mit einem Mal aus seiner Lethargie gerissen.
Chenxi ignorierte ihn und legte die Hand auf das Tor.
»He, he, he!« Der alte Mann stand auf. » Gan ma? «
Chenxi stieà das Tor auf.
» Tamade! « Der alte Mann fluchte in dem hiesigen Dialekt. Er kam auf Chenxi zu. »Was denkst du dir eigentlich, Junge?«
Chenxi kicherte und drehte sich dann um. Der Alte hatte von dem Dialekt zu Mandarin gewechselt. Er war auf Chenxis Bluff hereingefallen. Diese alten Männer sprachen mit Einheimischen sonst nie Mandarin. Vielleicht konnte er wirklich als Ausländer durchgehen? Er beschloss zu erkunden, wie weit er mit seiner Charade kommen würde. Er lächelte höflich und sagte in bestem Mandarin: »Ich wohne hier.«
»Unsinn!«, knurrte der alte Mann und verfiel wieder in den Dialekt der Shanghailesen. »Ich kenne jeden, der hier wohnt. Wer bist du? Was willst du hier?«
Chenxi verdrehte theatralisch die Augen. »Ich will jemanden besuchen!«
Der alte Wachmann schnaubte. Er hatte nur eine einzige Aufgabe in seinem Leben. Es war keine wichtige Aufgabe, aber er würde seine ganze ärmliche Kraft einsetzen, um sie zu erfüllen.
»Hör zu«, zischte er und sorgte dafür, dass Chenxi
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