Shanghai Love Story
Neues über Chenxi. Sie zog ihre Sandalen an. Jetzt, Ende Mai, wurde es mit jedem Tag heiÃer. Anna gestattete sich ein Gefühl von Erleichterung bei dem Gedanken, dass sie den Sommer nicht in Shanghai verbringen musste.
Laurent wartete auf sie, den Rücken gegen den Fuà der riesigen Statue gelehnt. Ãber ihm türmten sich Marx und Engels auf und diskutierten die Lage des Kommunismus in China. Als Anna näher kam, sah sie, dass Laurent blasser war als gewöhnlich. Sein geschorenes Haar wuchs langsam wieder nach, und auf seinem kahlen Schädel zeigte sich ein dunkler Flaum. Seine Haut war grau und die Augen schimmerten gelb. Er wirkte vernachlässigt. In der Gewissheit, dass sie Shanghai bald verlassen würde, spürte Anna fast ein wenig Mitleid mit ihm.
Laurent kräuselte die Lippen. »Ich sitze tief in der ScheiÃe, und alles wegen dir!«
»Was ist los?«, fragte Anna entgeistert. Eigentlich hatte sie auf einen versöhnlichen Abschied gehofft.
»Dank dir bin ich den ganzen Tag lang von der Polizei verhört worden. Ich habe drei Briefe voller Selbstkritik geschrieben und werde des Landes verwiesen! Dank dir ist meine Zukunft im Arsch!« Er stieà mit seinem knochigen Finger in ihre Schulter.
»Wovon redest du?«, fuhr Anna ihn an. »Hör zu, wenn du wegen deiner Haschisch-Dealerei geschnappt wurdest, ist das nicht mein Problem. Das war doch zu erwarten!«
»Ach ja?«, schrie Laurent sie an. »Und was ist das?« Er griff in seine Hosentasche und drückte ihr einen Stapel Papier in die Hand. Anna erkannte ihre eigene Handschrift. Es waren Fotokopien ihres Tagebuchs. Sie begriff nicht, was da vor sich ging.
»Du bist so was von blöd! Ich habe dich gewarnt, aber du lebst in deiner eigenen, verdammten, sauberen Welt, wo alles fein ordentlich sortiert ist, und du hältst dich für unberührbar!« Er zitterte vor Zorn.
Anna drehte die Seiten um. Ihre Schrift wirkte kindlich. Das war ihr noch nie zuvor aufgefallen. »Aber das ist mein Tagebuch! Wie kommt die Polizei an �«
»Eure Aiyi ! Die Spionin! WeiÃt du noch? Glaubst du denn, dass nur die Unterlagen deines Vaters für sie nützlich waren? WeiÃt du es denn nicht, du Idiotin? Wir sind hier in China. Hier schreibt man niemals etwas auf!«
Sie überflog die Seiten, auf denen Laurents Name unterstrichen war. Natürlich, es war immer sein Name auf den Seiten, auf denen sie über Haschisch geschrieben hatte. Sie blätterte immer weiter. »Ich kann es nicht glauben â¦Â«
Bis sie plötzlich innehielt. Auf dieser Seite war Chenxis Name eingekreist. Als sie die Seite umblätterte, sah sie, dass sein Name wieder markiert war, und wieder. Eine eisige Welle schlug über ihr zusammen, und sie merkte, dass sie kaum noch atmen konnte. Mit leerem Gesicht schaute sie zu Laurent auf. Er sah, was sie bemerkt hatte.
»Ich will dir mal was sagen, Mädchen.« Er zog Anna am T-Shirt zu sich und zischte ihr ins Ohr. »Dein Chenxi ist mir scheiÃegal! Du warst mir nicht egal, aber jetzt weià ich, dass du nur eine dämliche kleine Kuh bist, die von nichts eine Ahnung hat. Es ist schlimm genug, dass du ihm Ãrger gemacht hast, aber jetzt auch noch mir! Du bist erbärmlich!«
Laurent spuckte vor ihren FüÃen aus und ging davon.
Anna stand wie erstarrt da und schaute auf die Papiere in ihrer Hand. Chenxis Name wurde vor ihren Augen gröÃer und gröÃer, die roten Kreise um seinen Namen dicker und dicker. Chinesische Schriftzeichen in Rot krochen über ihre Schrift wie giftige Spinnen. Schluchzend rannte sie aus dem Park in den Keller des Apartmenthauses und holte ihr Fahrrad.
Die Strecke zur Akademie war ihr noch nie so lang vorgekommen, die StraÃen noch nie so überfüllt. Radfahrer bummelten vor ihr her. In Annas Brust flatterte eine kleine Motte.
Während sie über den Marktplatz sauste, stimmte sie der Anblick des Eingangstors zur Akademie wieder etwas ruhiger. Jetzt würde Chenxi mit ihr nach Melbourne fliegen, dachte sie. Sie würde ihn in ihr friedliches Land bringen, wo er in Sicherheit war. Wo er seiner Kunst nachgehen konnte. In Gedanken schrieb sie schon den Zettel, den sie in seinem Arbeitstisch verstecken würde. Sie hatte an alles gedacht.
Es war Bestimmung.
Der Klassenraum war leer. Chenxis Schreibtisch war verschwunden. Seine Bücher, seine Pinsel, selbst das Häufchen
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