Shannara V
deutlich, daß Walkers besondere Einsicht ihm auch bei seiner Ausbildung zugute kommen würde. Er begann, in der Bibliothek seines Vaters zu lesen, sobald er gelernt hatte, wie die Buchstaben des Alphabets auf den abgenutzten Seiten von seines Vaters Büchern Wörter bildeten. Mühelos meisterte er die Mathematik. Die Naturwissenschaften verstand er intuitiv. Kaum irgend etwas mußte ihm erklärt werden. Irgendwie schien er einfach zu begreifen, wie das alles funktionierte. Geschichte wurde seine besondere Leidenschaft, seine Erinnerungsfähigkeit an Orte und Ereignisse und Leute war erstaunlich. Er begann, eigene Aufzeichnungen zu machen, alles, was er lernte, niederzuschreiben und Lehren zu kompilieren, die er eines Tages anderen weitergeben wollte.
Je älter er wurde, desto mehr schien sich die Haltung seines Vaters ihm gegenüber zu verändern. Zunächst wehrte er den Verdacht ab, überzeugt, daß er sich irrte. Doch das Gefühl blieb. Schließlich fragte er seinen Vater danach, und Kenner - ein großer, schlanker Mann mit flinken Bewegungen und großen, intelligenten Augen, einem Stotterproblem, das er mit harter Anstrengung überwunden hatte, und einer handwerklichen Begabung - gab zu, daß es stimmte. Kenner hatte selbst keine Magie. Er hatte in seiner Jugend Spuren davon gehabt, doch kurz nachdem er aus dem Jungenalter gewachsen war, waren sie verschwunden. So war es auch seinem Vater und dem Vater seines Vaters und allen Ohmsfords, von denen er Kenntnis hatte, bis zurück zu Brin gegangen. Doch bei Walker schien es nicht der Fall zu sein. Walkers Magie schien sogar immer stärker zu werden. Kenner sagte ihm, daß er fürchtete, die Fähigkeiten seines Sohnes würden ihn irgendwann überwältigen und sich zu einem Punkt entwickeln, wo er ihre Wirkung nicht mehr vorhersehen und kontrollieren könne. Doch er sagte gleichzeitig, daß sie nicht unterdrückt werden dürfe, daß Magie eine Gabe sei, deren Vorhandensein immer einen bestimmten Sinn habe.
Wenig später erzählte er Walker die Geschichte der Hintergründe der Ohmsfordmagie, von dem Druiden Allanon und dem Talmädchen Brin und von dem mysteriösen Vermächtnis, das er ihr im Sterben überantwortet hatte. Walker war zwölf Jahre alt, als er die Legende hörte. Er hatte wissen wollen, worin denn das Vermächtnis bestanden habe. Sein Vater hatte es ihm nicht sagen können. Er hatte ihm nur die Geschichte berichten können, wie es durch die Blutlinie der Ohmsfords weitergegeben wurde.
»Es manifestiert sich in dir, Walker«, sagte er. »Du deinerseits wirst es deinen Kindern weitergeben und sie den ihren, bis es eines Tages gebraucht wird. Das ist das Vermächtnis, das du geerbt hast.«
»Aber wozu taugt denn ein Vermächtnis, das keinem Zweck dient?« hatte Walker gefragt. Und Kenner hatte wiederholt: »Die Magie hat immer einen Sinn - selbst wenn wir nicht erkennen, worin er liegt.«
Knapp ein Jahr später, als Walker in seine Jugendjahre kam und seine Kindheit hinter sich ließ, offenbarte die Magie eine andere, dunkle Seite. Walker fand heraus, das sie zerstörerisch sein konnte. Manchmal, vor allem, wenn er wütend war, verwandelten sich seine Gefühle in Energie. Wenn das geschah, konnte er Dinge von der Stelle bewegen und zerbrechen, ohne sie zu berühren. Manchmal konnte er eine Art Feuer auslösen. Es war kein gewöhnliches Feuer, es brannte nicht wie gewöhnliches Feuer, und es hatte eine andere Farbe, eine Art Kobaltblau. Es wollte nicht viel von dem tun, was er versuchte, es tun zu lassen, es machte so ziemlich das, was es wollte. Er brauchte Wochen, um zu lernen, es zu kontrollieren. Er versuchte, seine Entdeckung vor seinem Vater zu verbergen, doch sein Vater erfuhr trotzdem davon, so wie er irgendwann alles über seinen Sohn herausfand. Auch wenn er wenig sagte, fühlte Walker, wie sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte.
Walker war auf der Schwelle zum Mannesalter, als sein Vater sich entschloß, ihn aus Hearthstone fortzubringen. Kenner Ohmsfords Gesundheitszustand hatte sich seit mehreren Jahren immer mehr verschlechtert, sein einst starker Körper war von einer zermürbenden Krankheit befallen. Er verschloß die Hütte, die von Geburt an Walkers Heim gewesen war, und brachte den Jungen nach Shady Vale, um dort bei einer anderen Ohmsford-Familie zu leben, Jaralan und Mirianna mit ihren Söhnen Par und Coll.
Der Umzug wurde zu dem schlimmsten Ereignis, das Walker Boh je zugestoßen war. Shady Vale war kaum mehr als ein kleiner
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