Teranesia
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Die Insel war zu klein, um von Menschen besiedelt zu werden, und lag zu weit von den üblichen Schifffahrtsrouten entfernt, um als Landmarke für die Navigation dienen zu können. Deshalb hatten die Bewohner der Kai- und Tanimbar-Inseln niemals einen Grund gehabt, ihr einen Namen zu geben. Die Herrscher von Java und Sumatra, die von den Gewürzinseln Tribut verlangt hatten, schienen nichts von ihrer Existenz gewusst zu haben; und Prabir hatte sie auf keiner der niederländischen und portugiesischen Karten ausfindig machen können, die gescannt und ins Netz gestellt worden waren. Für die gegenwärtige indonesische Regierung war sie nur ein Fleck auf der Karte von Maluku propinsi, der genauso wie tausend weitere unbewohnbare Felsen nur der Vollständigkeit halber aufgeführt wurde. Prabir hatte die Gelegenheit, die sich ihm bot, bereits erkannt, bevor sie Kalkutta verlassen hatten, und er hatte sofort damit begonnen, eine Liste aller Möglichkeiten zusammenzustellen, aber es war keine leichte Entscheidung. Erst nachdem er schon über ein Jahr auf der Insel gelebt hatte, fand er einen Namen, mit dem er zufrieden war.
Er probierte das Wort an seinen Klassenkameraden und Freunden aus, bevor er es während eines Gesprächs mit seinen Eltern fallen ließ. Sein Vater hatte anerkennend gelächelt, doch dann hatte er Bedenken angemeldet.
»Warum Griechisch? Wenn du keine einheimische Sprache verwenden möchtest… warum nimmst du dann nicht Bengali?«
Prabir hatte ihn verwirrt angestarrt. Namen klangen blöde, wenn sie auf Anhieb zu verstehen waren. Warum sollte man sich mit einem lahmen Großen Fluss begnügen, wenn man einen majestätischen Rio Grande haben konnte? Das hätte gerade sein Vater am besten verstehen müssen. Denn Prabir war doch nur seinem Beispiel gefolgt.
»Aus demselben Grund, aus dem du dem Schmetterling einen lateinischen Namen gegeben hast.«
Seine Mutter hatte gelacht. »Jetzt hat er dich kalt erwischt!« Und sein Vater hatte sich schließlich gefügt und Prabir emporgehoben, um ihn durch die Luft zu wirbeln und zu kitzeln. »Also gut, also gut! Teranesia!«
Doch das war noch vor der Geburt von Madhusree gewesen, als sie selbst noch gar keinen Namen gehabt hatte (abgesehen von der viel zu wörtlichen ›versehentlichen Beule‹). Schließlich stand Prabir also am Strand, hatte seine Schwester hochgehoben, drehte sie langsam herum und sang: »Teranesia! Teranesia!« Madhusree starrte nur auf ihn und interessierte sich mehr dafür, wie er dieses seltsame Wort aussprach, als für das Panorama, das er ihr eigentlich zeigen wollte. War es normal, bereits im Alter von fünfzehn Monaten kurzsichtig zu sein? Prabir beschloss, sich darüber sachkundig zu machen. Er ließ sie ein Stück herunter und küsste schmatzend ihr Gesicht, dann taumelte er und hätte beinahe die Balance verloren. Sie nahm schneller an Gewicht zu, als sich seine Kraft entwickeln konnte. Seine Eltern behaupteten, gar nicht mehr an Kraft zuzunehmen; trotzdem weigerten sich inzwischen beide, ihn wie früher aufzuheben.
»Die Revolution wird kommen«, sagte Prabir zu Madhusree und überprüfte den blendend weißen Sand auf Muscheln oder Korallen, bevor er sie absetzte.
»Was?«
»Wir werden unsere Körper neu designen. Dann werde ich immer genügend Kraft haben, um dich hochzuheben. Selbst wenn ich einundneunzig bin und du dreiundachtzig.«
Sie lachte nur, als er über diese metaphysisch ferne Zukunft sprach. Prabir war sich ziemlich sicher, dass Madhusree eine mindestens genauso klare Vorstellung von der Zahl dreiundachtzig hatte wie er beispielsweise von zehn hoch einhundert. Er beugte sich über sie, zeigte ihr achtmal hintereinander die offene Hand und dann drei Finger. Sie beobachtete ihn verunsichert, aber fasziniert. Prabir blickte in ihre pechschwarzen Augen. Seine Eltern verstanden Madhusree nicht, sie erkannten nicht den Unterschied zwischen dem, was sie für sie empfanden, und dem, was sie war. Prabir konnte es nur deshalb verstehen, weil er sich dunkel daran erinnerte, wie es bei ihm gewesen war.
»Ach, du süßes Ding!«, krähte er.
Madhusree lächelte verschwörerisch.
Dann blickte Prabir über den Strand und auf das ruhige, türkisfarbene Wasser der Banda-See. Die Wellen, die sich am Riff brachen, wirkten von hier aus recht harmlos, aber er hatte genügend übelkeitserregende Überfahrten mit der Fähre nach Tual und Ambon mitgemacht, um zu wissen, wie sehr ein stetiger Monsunwind – ganz zu schweigen von
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