Shannara V
Höhlen waren Jahrhunderte zuvor entstanden und von unzähligen Generationen erforscht und schließlich vergessen worden, der steinerne Boden war abgetreten und glatt von vielen Füßen und verstrichener Zeit. Sie hatten die Großen Kriege, die Kriege der Rassen, das Eindringen von Lebewesen aller Art und selbst das Feuer der Erde überstanden, das direkt darunter glimmte. Die Höhlen waren strahlend leuchtende Löcher, die Decken dicht mit Stalaktiten behangen, klare Wassertümpel und dunkle Senklöcher im Boden. Ihre Kammern waren durch ein Netz enger, gewundener Stollen miteinander verbunden. Es war gefährlich, in die Höhlen zu gehen, das Risiko, sich zu verirren, war sehr groß. Aber für einen abenteuerlustigen Hochlandjungen wie Morgan Leah war die Aussicht auf Gefahr nichts als eine Verlockung.
Er entdeckte die Höhlen, als er noch sehr klein war, kaum alt genug, um allein herumzustrolchen. Ein halbes Dutzend Jungen waren dabei, als er den Eingang entdeckte, aber er war als einziger mutig genug, sich hineinzutrauen. An jenem Tag ging er nur ein kleines Stück weit, mehr als nur ein bißchen eingeschüchtert; es erschien ihm eine sehr reale Möglichkeit, daß die Stollen bis in die Mitte der Erde führten. Doch es war auch der Reiz dieser Möglichkeit, der ihn schließlich zurücklockte, und nach kurzer Zeit wagte er sich tiefer hinein. Er verheimlichte seinen Eltern seine Unternehmungen wie alle Jungen; es gab schon so genug Verbote und Einschränkungen in jenen Tagen. Er spielte, er sei ein Forscher, der ganze Welten entdeckte, die jenen, die er zurückgelassen hatte, völlig unbekannt waren. Seine Phantasie kannte keine Grenzen, wenn er in der Höhle war; er konnte irgendwer oder irgend etwas sein. Oft ging er allein hinein, weil er die Freiheit genoß, wenn die anderen Jungen nicht dabeiwaren und seinen Rollenspielen Grenzen setzten. Allein schon ihre bloße Anwesenheit schränkte seinen Spielraum in einer Weise ein, die er nicht immer zu akzeptieren bereit war.
Es war genau ein Jahr nach seiner wundervollen Entdeckung, daß er allein in der Höhle war und sich verirrte. Er spielte wie immer, achtete nicht auf seinen Weg, und plötzlich wußte er nicht mehr, wo er war. Der Tunnel, dem er folgte, war ihm nicht vertraut; die Höhlen, auf die er stieß, sahen fremd aus; die Atmosphäre wurde plötzlich feindselig und kalt. Es kostete ihn geraume Zeit, bis er sich eingestand, daß er sich tatsächlich verirrt hatte und nicht einfach nur verwirrt war, und dann blieb er einfach stehen und wartete. Er hatte zunächst keine Ahnung, worauf er wartete, aber nach einiger Zeit wurde es klar. Er wartete darauf, verschlungen zu werden. Die Höhlen waren lebendig geworden, ein schlafendes Tier, das schließlich aufgewacht war, um dem Jungen ein Ende zu bereiten, der sich anmaßte, mit ihm herumzuspielen. Morgan sollte sich sein ganzes Leben lang daran erinnern, wie ihm in diesem Augenblick zumute war. Er würde sich an die Verzweiflung erinnern, als die Höhlen plötzlich von unbelebtem Fels zu einem lebenden, atmenden, sehenden Wesen wurden, das ihn rundum schlangenähnlich umfing und abwartete, wohin er zu flüchten versuchen würde. Morgan floh nicht. Er wappnete sich gegen die Bestie, gegen die Art und Weise, wie sie sich über ihn beugte. Er zog das Messer, das er bei sich trug, hielt es vor sich hin, entschlossen, seine Haut teuer zu verkaufen. Langsam und ohne daß es ihm bewußt wurde, wurde er wieder zu der Gestalt, die zu sein er vorher viele Stunden lang gespielt hatte. Er wurde jemand anderes. Irgendwie rettete ihn das. Das Tier wich zurück. Herausfordernd ging er weiter, und währenddessen schwand die Fremdheit langsam wieder. Er erkannte vertraute Ecken, hier eine Kristallisierung, dort eine Tunnelnische, hier etwas, dort noch etwas, und plötzlich wußte er wieder, wo er sich befand.
Als er aus der Höhle kam, war es Nacht geworden. Er war mehrere Stunden lang in der Höhle herumgeirrt - doch es kam ihm vor, als sei es nur ein Augenblick gewesen. Er ging nach Hause und dachte, daß die Höhlen viele verschiedene Verkleidungen annehmen konnten, aber daß man, wenn man genau genug hinschaute, immer das Gesicht, das sich dahinter verbarg, erkennen konnte.
Damals war er noch ein Junge gewesen. Jetzt war er ein erwachsener Mann, und der Glauben seiner Kindheit war ihm längst entglitten. Er hatte zu viel von der Wirklichkeit gesehen. Er kannte zu viele harte Wahrheiten.
Doch während er die Treppen
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