Shelter Bay - 02 - Furienlied
Vater über alles. Und eines der Dinge, die sie so an ihm liebte, war, dass er sich eben nicht so viele Gedanken um Geld und Ansehen machte, wie ihre Mutter es immer getan hatte. Johnny liebte die Menschen und er liebte es, neue Erfahrungen zu machen. Er interessierte sich nicht für Autos oder Schmuck oder dafür, zu den »richtigen Leuten« zu gehören.
Sie küsste ihn flüchtig auf sein Tattoo. »Hab dich lieb.«
Er sah auf und richtete seine tiefen grauen Augen auf sie. »Ich hab dich auch lieb, Hasenschnute.«
Zoe lachte und warf die Bananenschale in den Mülleimer. Mit einem kurzen Winken über die Schulter schlüpfte sie zur Tür hinaus und lief über den vom Morgentau noch feuchten Kies, der unter ihren Schuhen knirschte.
* * *
Zoe trabte in gemäßigtem Tempo den vertrockneten Grasstreifen seitlich der Straße entlang, vorbei an der zerfallenden Kartoffelscheune, die jene Stelle markierte, an der das Grundstück der Ellis’ endete und das Farmland der Archers begann. In den morgendlichen Nebelschwaden erschien das Gebäude grau und farblos. Ihre Muskeln waren verspannt, doch mit jedem Schritt wärmten sie sich auf und wurden lockerer. Eine leichte Brise wehte klamme Luft über ihre Haut.
Hinter sich hörte sie ein Klappern und Rumpeln. Lastwagen benutzten diese Strecke oft als Abkürzung zum Highway. Zoe wich ein Stück nach rechts aus und lief weiter. Der Motor brummte, als das Fahrzeug beschleunigte, und die Reifen knirschten auf dem Asphalt. Der Lastwagen hielt genau auf sie zu.
Zoe schrie auf und stürzte sich in eine Hecke am Straßenrand, gerade noch rechtzeitig, bevor der schwarze Lkw an ihr vorbeischoss, wobei er eine gewaltige Ladung Staub und Steine aufwirbelte. Ein Steinchen traf Zoe an der Wade. Sie fluchte und besah sich den Kratzer. Wahrscheinlich würde an der Stelle bald ein dicker blauer Fleck entstehen, aber die Wunde selbst sah nicht allzu schlimm aus. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie dem Lastwagen hinterherblickte, der bereits im Nebel verschwunden war. Die Idee, sich das Kennzeichen zu merken, war ihr dreißig Sekunden zu spät gekommen.
Aber was hätte ich damit auch anfangen sollen?, fragte sie sich. Die Polizei rufen? Der Fahrer hat mich im Nebel vermutlich nicht gesehen. Ihre Beine fühlten sich zittrig an, als sie die Straße überquerte. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, einfach nach Hause zu gehen. Aber das wollte sie eigentlich nicht. Sie setzte sich wieder in Bewegung und beschleunigte langsam, während sie über das Grundstück der Archers lief, vorbei an dem blühenden Kürbisbeet, in dem sich die schweren gelben Blüten unter dem Gewicht der aufgefangenen Tautropfen bogen. Gelegentlich lugten blassorange Butternutkürbisse oder dicke rote Hokkaidokürbisse unter den riesigen grünen Blättern hervor. Das Kürbisbeet war nicht mehr als ein langer, schmaler Streifen – die meisten Sommergäste hatten Long Island Ende September schon längst wieder verlassen und für Winterkürbisse gab es keine große Nachfrage. Dennoch fanden sich immer wieder Leute, die die Zierkürbisse und Roten Zentner kauften. Und die Gourmetköche und Restaurants der Umgebung zauberten aus den Delicata- und Carnivalkürbissen Delikatessen, die den Aufwand des Anbaus bei Weitem aufwogen. Zoe lief vorbei an den schlummernden Feldern hinüber zu dem kleinen Wäldchen. Zwischen den Bäumen gab es kaum Nebel, dafür war es hier dunkel und schattig. Dennoch fand Zoe ihren Weg problemlos. Das Grundstück der Archers war ihr ebenso vertraut wie ihr eigenes, schließlich waren hier ihre beiden besten Freunde aus Kindertagen, Will und Tim, aufgewachsen. Sie lief durch die Bäume Richtung Strand. Zoe spürte, wie die Muskeln in ihren Beinen mit dem wechselnden Untergrund aus Sand und Stein zu kämpfen hatten. Nebel hing über dem Wasser und ein einzelner dunkler Felsen ragte aus dem Dunst hervor wie ein begierig ausgestreckter Arm. Die Morgensonne mühte sich, zwischen den Wolken vorzubrechen, doch mehr als ein paar vereinzelte Strahlen schafften es nicht hindurch, und die lösten sich auf, lange bevor sie den Boden erreichten.
Zoe rannte weiter, hielt jedoch kurz darauf an, um sich auf einem der Felsbrocken auszuruhen. Seit sie das letzte Mal gelaufen war, waren Monate vergangen, und auch wenn es sich gut anfühlte, musste sie sich doch erst wieder daran gewöhnen. Inzwischen hatte sich der Nebel teilweise gelichtet, sodass sie das dunkelgrüne Wasser sehen konnte, dessen
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