Shelter Bay - 02 - Furienlied
einen freien Kopf zu bekommen. Und obwohl es erst Ende September war, war es morgens bereits empfindlich kühl.
»Was machst du denn hier?«, fragte Zoe, als sie die Küche betrat. Ihr Vater saß am Resopaltisch, nippte an einer Tasse Kaffee und blätterte halbherzig in der New York Times.
»Ich wohne hier, weißt du noch?«, entgegnete Johnny. Er lächelte, doch es war ein mühsames Lächeln – als kostete es ihn alle Kraft, seine Mundwinkel weit genug anzuheben.
»Jetzt tu nicht so, als wärst du neuerdings ein Frühaufsteher.« Zoe griff nach einer Banane. »Es ist halb sieben.«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Zoe runzelte die Stirn. »Das ist nicht gut.«
Johnny zuckte die Schultern. »Kommt vor.« Er nahm einen großen Schluck Kaffee. »Mir wird’s besser gehen, wenn unsere Sachen erst mal hier sind.«
Er meinte die Sachen aus ihrem Appartement in Manhattan. Kaum dass Johnny den Mietvertrag gekündigt hatte, hatte der Hausverwalter schon einen Nachmieter gefunden. Das war Ausziehen à la New York: In weniger als zwei Stunden waren sie ersetzt worden – schnell und gnadenlos.
»Wann kommen die Möbelpacker?«, erkundigte sich Zoe.
»Morgen.«
Zoe nickte. Ihr würde es auch besser gehen, wenn ihre Sachen endlich hier waren. Auch wenn sie das Leben in Manhattan vermissen würde, war sie bereit, ein für alle Mal einen Schlussstrich unter dieses Kapitel zu ziehen. Außerdem, dachte sie, brauchen wir das Geld.
Als ihre Mutter ausgezogen war, hatte sie den Großteil ihres Vermögens mitgenommen. Yvonne hatte geerbt und kannte sich mit Investitionen gut aus; Johnny hatte sich nie zuvor um die Finanzen gekümmert. Daher war ihr Leben auch nach Yvonnes Auszug einige Jahre lang weitergegangen wie bisher: die Privatschule in Manhattan, das teure Appartement, die Auslandsreisen. Dann, mit einem Schlag, hatte Johnny feststellen müssen, dass sie pleite waren. Aufgrund einiger schlechter Investitionen und der Jahre, in denen sie über ihre Verhältnisse gelebt hatten, steckten sie plötzlich bis zum Hals in Schulden. Infolgedessen hatten sie dem Appartement den Rücken gekehrt und lebten jetzt in dem alten Bauernhaus, das Zoes Großvater vor über einem halben Jahrhundert gekauft hatte – und das sie insgeheim gerne als das »Familienhaus« bezeichnete. Johnny hatte es geerbt, sodass er als Eigentümer nun kostenfrei darin wohnen konnte.
Als hätte er ihre Gedanken über ihre finanzielle Situation gelesen, lehnte sich Johnny zur Seite und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. »Hör mal, die Schule geht ja bald wieder los und du brauchst doch sicher noch ein paar Kleinigkeiten …« Er blätterte durch das Geldbündel, das hauptsächlich aus Eindollarnoten bestand, und zog ein paar Zwanziger hervor. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck hielt er sie ihr hin. »Ich weiß, das ist nicht gerade viel.«
Zoe machte keinerlei Anstalten, das Geld entgegenzunehmen. »Schon okay, Dad. Ich hab einen Job, weißt du noch?«
»Den willst du doch wohl nicht behalten, oder?«
»Doch, warum nicht?«
Johnny strich über das Lotustattoo an seiner Schläfe. »Das ist dein Abschlussjahr, Zoe. Du solltest auf deinen Notenschnitt achten.«
»Dem wird schon nichts passieren.«
»Ein guter Abschluss ist das Wichtigste.«
»Ich weiß, Dad. Aber wenn ich aufs College gehe, werde ich ohnehin einen Job brauchen, da kann ich genauso gut jetzt schon damit anfangen.«
Johnny sah aus, als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen. »Ich denke, ich …«
»Das hab ich nicht … So war das nicht gemeint.« Zoe stolperte über ihre eigenen Worte. »Ich wollte nur …«
Johnny ließ das Geld auf den Tisch fallen. »Nein, du hast recht.« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Zoe.«
Sie legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. »Schon okay, Dad.«
Johnny legte seine Hand auf ihre, sah sie jedoch nicht an. Sie versetzte ihm einen spielerischen Boxhieb, doch er seufzte nur. »Ich habe mir nie Gedanken ums Geld gemacht«, gestand er. »Ich hab wohl einfach gedacht, als Musiker bräuchte man das nicht.«
Zoe nickte, doch sie spürte, wie sich ihre Laune verfinsterte. Wenn sie ehrlich war, war sie unfassbar wütend auf ihren Dad, weil er all ihr Geld verloren und sich nie um etwas gekümmert hatte. Sie wollte ihr Abschlussjahr nicht auf Long Island verbringen. Sie wollte nicht die Schule wechseln müssen. Sie wollte nicht in der Nähe der Bucht leben, so nah an all den schlimmen Erinnerungen.
Gleichzeitig liebte sie ihren
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