Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville
Strenge. Mir ist noch nie ein
Mensch vorgekommen, der so wenig seine Gefühle zeigt. Aber ich habe Ihnen ja berichtet, daß ich sie in der ersten Nacht unseres Aufenthaltes hier bitterlich schluchzen hörte, und seit der Zeit habe ich noch öfter Tränenspuren auf ihrem Gesicht bemerkt. Ein großer Kummer nagt an ihrem Herzen. Manchmal
frage ich mich, ob es die Erinnerung an eine schwere Schuld ist, die sie umtreibt, und manchmal habe ich Barrymore im Verdacht, ein Haustyrann zu sein. Von Anfang an kam mir der Charakter dieses Mannes seltsam und fragwürdig vor. Durch das Abenteuer der letzten Nacht hat mein Argwohn neue Nahrung gefunden.
Die Sache mag an sich klein und unbedeutend erscheinen. Sie wissen, daß ich einen leichten Schlaf habe, und seit ich in diesem Hause bin und so angespannt aufpasse, schlafe ich schlechter denn je. Letzte Nacht, so um zwei Uhr herum, wachte ich auf und vernahm, wie jemand vorsichtigen Schrittes an meiner
Zimmertür vorbeischlich. Ich stand auf, öffnete meine Tür einen Spalt und sah hinaus. Ein langer, schwarzer Schatten schwebte den Korridor entlang. Dieser gehörte zu einem Mann, der mit einer Kerze in der Hand behutsam den Gang hinunterschritt. Er trug Hemd und Hose, hatte aber keine Schuhe an. Ich vermochte nur die Umrisse der Gestalt zu erkennen, aber von der Größe her zu urteilen, konnte es sich nur um Barrymore handeln. Er ging sehr langsam und vorsichtig, und in seinem ganzen Verhalten lag etwas unbeschreiblich Scheues und Schuldbewußtes.
Wie ich Ihnen schrieb, wird der Korridor von der Galerie unterbrochen, die um die Halle herumführt, geht aber am anderen Ende weiter. Ich wartete, bis er außer Sicht war, dann folgte ich ihm. Als ich um den Bogen der Galerie herum war, hatte er das andere Ende des Korridors bereits erreicht. Ein kleiner Lichtschein, der durch eine offene Tür fiel, sagte mir, daß er eines der Zimmer betreten hatte. Nun, alle diese Räume sind unmöbliert und unbewohnt, und so wurde mir sein Vorhaben immer rätselhafter. Das Licht schien so ruhig, als stände er bewegungslos auf einem Fleck. So geräuschlos wie nur möglich schlich ich den Gang entlang zu der offenen Tür, spähte vorsichtig um die Ecke und blickte ins Zimmer hinein.Barrymore hockte vor dem Fenster und hielt die Kerze gegen die Fensterscheibe. Sein Profil war mir halb zugekehrt, und während er ins schwarze Moor hinausstarrte, schien sein Gesicht angespannt vor Erwartung. Ein paar Minuten vergingen so, dann stöhnte er tief auf und löschte mit einer ungeduldigen Handbewegung die Kerze.
Sofort machte ich mich auf den Weg zurück in mein Zimmer, und kurz danach hörte ich wieder die
vorsichtigen Schritte, als er auf seinem Rückweg an meiner Tür vorbeikam. Lange Zeit danach, als ich schon wieder in leichten Schlummer gefallen war, wurde ich dadurch aufgestört, daß irgendwo ein Schlüssel in einem Schloß umgedreht wurde, aber ich konnte nicht ausmachen, woher dieses Geräusch kam. Was das alles bedeuten soll, verstehe ich jetzt noch nicht, aber in diesem düsteren Haus geht etwas Geheimnisvolles vor, das steht fest, und wir werden es früher oder später ergründen. Ich will Sie jetzt auch nicht mit Hypothesen langweilen, denn Sie haben mich ja gebeten, nur Tatsachen zu berichten.
Heute morgen hatte ich ein langes Gespräch mit Sir Henry, und wir haben aufgrund meiner
Beobachtungen einen Kriegsplan entworfen. Ich will jetzt nicht näher darauf eingehen, aber sicherlich wird er meinen nächsten Bericht zu einer interessanten Lektüre machen.
9. KAPITEL
Dr. Watsons zweiter Bericht
Das Licht auf dem Moor
Schloß Baskerville, den 15. Oktober
Mein lieber Holmes!
Wenn ich gezwungen war, meine Informationen in den ersten Tagen meines Hierseins etwas spärlich fließen zu lassen, weil nicht viel geschah, so werden Sie jetzt feststellen, daß ich nun
Versäumtes nachhole, denn die Ereignisse kommen jetzt Schlag auf Schlag. Meinen letzten Brief schloß ich mit der Mitteilung, wie ich Barrymore am Fenster beobachtet habe, und nun habe ich gleich ein ganzes Bündel von Neuigkeiten. Wenn ich mich nicht sehr irre, wird Sie das alles nicht wenig
überraschen. Die Dinge haben eine Wendung genommen, die ich nicht vorausgesehen habe. Manches ist in den letzten achtundvierzig Stunden viel klarer geworden, und anderes sieht inzwischen noch viel komplizierter aus. Nun werde ich Ihnen alles der Reihe nach erzählen, und Sie sollen dann selbst urteilen.
Am Morgen nach meinem nächtlichen
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