Das Experiment
Prolog
Samstag, 6. Februar 1692
Von der durchdringenden Kälte getrieben knallte Mercy Griggs ihrer Stute die Reitgerte über das Hinterteil. Das Pferd, das den Schlitten mühelos über den platt getretenen Schnee zog, verfiel in den Paßgang. In einem vergeblichen Versuch, sich vor der arktischen Kälte zu schützen, kuschelte Mercy sich noch tiefer in den großen Kragen ihres Seehundfellmantels und rieb ihre Hände aneinander, die in einem Muff steckten.
Es war ein windstiller, klarer Tag, und die Sonne verbreitete ein fahles Licht. In dieser Jahreszeit war sie in die südliche Hemisphäre verbannt und hatte große Schwierigkeiten, es in der verschneiten Landschaft von Neuengland richtig Tag werden zu lassen. Der unbarmherzige Winter beherrschte das Land, und selbst in der Mittagszeit warfen die Stämme der kahlen Bäume lange, violette Schatten. Über den Schornsteinen der weit verstreut liegenden Farmhäuser standen erstarrte Rauchfahnen und verharrten so regungslos, als ob sie an dem eisblauen Polarhimmel festgefroren wären.
Mercy war jetzt ungefähr seit einer halben Stunde unterwegs. Sie wohnte auf der Royal Side am Fuße des Leach Hill und war aus südwestlicher Richtung über die Ipswich Road gekommen. In ihrem Schlitten hatte sie sich über mehrere Brücken ziehen lassen und hatte zunächst den Frost Fish River, dann den Crane River und schließlich den Cow House River überquert. Jetzt erreichte sie Northfields, einen Ortsteil von Salem Town. Von hier waren es nur noch eineinhalb Meilen bis ins Zentrum des Dorfes.
Doch heute war Mercy nicht auf dem Weg ins Dorf. Als sie das Farmhaus der Jacobs hinter sich gelassen hatte, konnte sie ihr Ziel bereits erkennen. Es war das Haus von Ronald Stewart, einem erfolgreichen Kaufmann und Schiffseigner. Es waren vor allem nachbarliche Sorgen, die sie an diesem eiskalten Tag dazu gebracht hatten, ihre eigene warme Feuerstelle zu verlassen. Doch auchNeugier schwang mit, denn zur Zeit war der Haushalt der Stewarts weit und breit die Quelle des interessantesten Klatsches.
Mercy brachte ihre Stute vor dem Haus zum Stehen und betrachtete das Gebäude. Mr. Stewart war ohne Zweifel ein wohlhabender Geschäftsmann. Es war ein stattliches Haus mit mehreren Giebeln. Das Dach hatte eine starke Neigung und war mit braunen Schindeln gedeckt. Die zahlreichen Fenster waren mit importierten, rautenförmigen Scheiben verglast. Am beeindruckendsten aber waren die kunstvoll gedrechselten Verzierungen, die an den überhängenden Seiten des ersten Stockwerks herunterhingen. Alles in allem hätte das Haus besser ins Dorfzentrum als in diese abgelegene Gegend gepaßt.
Mercy war sicher, daß das Gebimmel der Schlittenglöckchen ihre Ankunft bereits angekündigt hatte, und wartete. Rechts neben der Eingangstür stand bereits ein anderes Pferd mit einem Schlitten, was vermuten ließ, daß die Stewarts bereits Besuch hatten. Das Pferd war mit einer Decke zugedeckt. Aus seinen Nüstern stiegen in regelmäßigen Abständen Dunstschwaden auf, die in der knochentrockenen Luft sofort verdampften.
Mercy mußte nicht lange warten. Die Tür ging auf, und auf der Schwelle erschien eine siebenundzwanzigjährige Frau mit rabenschwarzem Haar und grünen Augen; Mercy wußte, daß es Elizabeth Stewart war. In ihren Armen hielt sie locker eine Muskete. Von allen Seiten tauchten plötzlich neugierige Kindergesichter auf; in einem so abgelegenen Haus war es ungewöhnlich, bei diesem Wetter unerwarteten Besuch zu bekommen.
»Mercy Griggs«, stellte die Besucherin sich vor. »Ehefrau von Dr. William Griggs. Ich bin gekommen, um Ihnen einen angenehmen Tag zu wünschen.«
»Was für eine Überraschung«, erwiderte Elizabeth. »Bitte, kommen Sie doch auf ein Gläschen heißen Apfelwein herein. Der wird Ihnen die Kälte aus den Knochen treiben.« Elizabeth lehnte die Muskete gegen die Innenseite des Türrahmens und bat den neunjährigen Jonathan, ihren ältesten Jungen, nach draußen zu gehen und das Pferd von Mrs. Griggs zuzudecken und anzubinden.
Erfreut betrat Mercy das Haus und folge Elizabeth nach rechts in den Wohnraum. Im Vorbeigehen musterte sie die Muskete. Elizabeth sah ihren Blick. »Das rührt noch daher«, erklärte sie,»daß ich in der Wildnis von Andover groß geworden bin. Dort mußten wir ständig vor den Indianern auf der Hut sein.«
»Ich verstehe«, sagte Mercy, obwohl sie noch nie eine Frau mit einem Gewehr in der Hand gesehen hatte. An der Schwelle zur Küche zögerte Mercy
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