Die Erben der alten Zeit - Das Amulett (Die Erben der alten Zeit - Trilogie) (German Edition)
1. Die Akte Charlotta Johansson
Das Ticken der Wanduhr im Zimmer nebenan, war irritierend deutlich zu hören. Die Stille der Frühlingsnacht war seltsamerweise ohrenbetäubend. Jedes auch noch so kleine Geräusch schien wie ein Gewitter. Das raschelnde, kratzende Werkeln einer Maus irgendwo in der Wand am Fenster, die klickenden, tapsenden Schritte der Katze im Flur, die nicht fähig war ihre Krallen ordentlich einzufahren oder auch das dumpfe Gurgeln von Wasser in den veralteten Leitungen der Heizung.
Jeder Laut für sich alleine war schon Grund genug, einen Bären aus seinem Winterschlaf zu holen. So schien es. Angespannt lauschend, regungslos wartend, verharrte eine schmale Gestalt unter einer warmen Bettdecke.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte diese in die Dunkelheit des Raumes. Als ob die offenen, sehr außergewöhnlichen Augen ihr beim Horchen behilflich sein könnten. Charlie atmete leise und sehr flach. Ihr durfte kein entscheidendes Geräusch entgehen.
Seit geraumer Zeit hatte sie keinen verdächtigen Laut mehr vernommen, kein verräterisches Husten, keine Schritte auf dem kalten Linoleumfußboden, kein Umblättern von Seiten in einem Buch. Sollte sie es jetzt wagen? Der Rucksack lag tief unter dem Bett verstaut. Fertig gepackt mit dem Nötigsten. Mit den wichtigsten Sachen, die sie brauchen würde, wie Kleidung, ein Foto ihrer Eltern und das Messer mit dem Griff aus Horn und dem Kompass. (Beides hatte sie von ihrem Vater bekommen.) Außerdem ein wenig Schnur mit einem Angelhaken, eine Landkarte, drei Feuerzeuge, die Taschenlampe und das Buch Ronja Räubertochter, das einzige was ihr von ihrer Mutter geblieben war.
Ungefähr 200 Kronen Taschengeld hatte Charlie gespart. Diese lagen jetzt sicher in einer der klein en Reißverschlusst aschen an der Seite des Rucksackes verstaut.
Und dann war da noch ihre Akte. Charlie lief ein Schauer über den Rücken. Sie spürte wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Alleine die Erinnerung an den vergangenen Nachmittag genügte für eine derartige Reaktion:
Anstatt nach der Schule den langen Weg durch die Stadt bis zu ihrem derzeitigen zu Hause zu wählen, überquerte Charlie die breite Straße vor der Schule und bog rechts in eine kleine Gasse ein. Von der nächsten Straßenecke aus beobachtete sie mit gemischten Gefühlen das gelbe Gebäude schräg gegenüber. Das Sozialamt. Gespannt, etwas nervös und mit leichten Schuldgefühlen wartete die schlanke Gestalt ungeduldig die Geschehnisse ab. Menschen betraten und verließen, allein oder paarweise das wuchtige Gebäude aus Stein. Gemauerte Häuser gab es in Schweden fast ausschließlich in Städten. In Wohnsiedlungen und auf dem Lande waren fast alle Villen und Häuser aus Holz oder besaßen zumindest eine Holzverkleidung. Warum wurden in den Stä dten Steinhäuser gebaut? Charlie hatte vorher noch nie bewusst darüber nachgedacht. Sie ließ kurz, ganz kurz - um auch ja nichts zu verpassen - ihren Blick umherschweifen. Die großen mandelförmigen Augen sahen sich um. Na gut. Einige der Häuser in dieser Gasse waren ebenfalls aus Holz. Links von ihr stand ein blaues großes Gebäude mit dunkelblauen Fenstern, daneben ein weißes Haus mit Türmchen und weiter hinten ein gelbes Haus mit weißen Fenstern. Gelbe Häuser waren auch auf dem Land oft zu finden. Meistens waren die alten Hütten und Häuser aber rot mit weißen Fenstern und weißen Ecken und Kanten.
Jäh wurde Charlie aus ihren Überlegungen gerissen. Ihr sehniger, mehr jungenhafter Körper spannte sich wie eine Feder. Sie zog sich schnell weiter in die Gasse zurück und schaute vorsichtig durch ihre langen Wimpern. Sie konnte im Schutz eines großen rosa Gebäudes, über den Parkplatz hinüber, den Eingang zum Sozialamt gut einsehen. Eine einzelne Person, eine Frau, bewegte sich raschen Schrittes zu einem der parkenden Autos, einem alten Volvo, stieg ein und fuhr zügig davon.
Das war Charlies Startsignal. Sie hatte jetzt eine halbe Stunde Zeit , bis Ingrid aus der Mittagspause zurückkehrte.
Charlie schlenderte bewusst gleichgültig auf das Gebäude zu. Sie tat so, als würde sie sich das Schaufenster des Juweliers neben dem Sozialamt genauer ansehen und wartete, bis kein Mensch im Vorflur zu sehen war. Dann huschte sie schnell hinein. Sie beeilte sich die steile Treppe hinauf, lugte im oberen Flur um die Ecke, um sich zu orientieren und sicherzugehen, dass sie allein war und schlich leise zu der Tür mit dem Schild Ingrid Olafsson,
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