Sherry Thomas
einigen
Häusern, in denen sie bisher ein und aus gegangen war, nicht länger willkommen.
Sie schluckte ihren Stolz herunter und schwor sich, dass ihrer Tochter niemals
etwas Ähnliches passieren sollte. Dafür wollte sie schon sorgen. Das Mädchen
würde von ihr geschliffene Manieren lernen, vom Vater eine reiche Mitgift
erhalten und London damit im Sturm erobern. Gigi heiratete einen Duke – und wenn
es das Letzte war, was Victoria in diesem Leben zu Wege brachte. So hatte sie
früher gedacht.
Tatsächlich wäre Gigi das auch
beinahe geglückt. Genau genommen war sie schon am Ziel gewesen, die Schuld lag
alleine bei Carrington. Doch dann schaffte die Tochter es zu Victorias
Erstaunen gleich noch einmal, indem sie Carringtons Cousin und zukünftigen
Erben seines Titels heiratete. Oh, wie glücklich und stolz war Victoria am Tag
von Gigis Hochzeit gewesen, geradezu außer sich!
Bloß ging dann plötzlich alles
daneben. Camden verschwand ohne die geringste Erklärung am Tag nach der
Hochzeit. Ganz gleich, wie sehr Victoria flehte, schmeichelte oder weinte, aus
Gigi bekam sie kein Wort darüber heraus, was vorgefallen war.
»Was kümmert es dich?«, hatte
Gigi eisig gefragt. »Wir haben eben beschlossen, getrennte Wege zu gehen.
Sobald er erbt, werde ich trotzdem Duchess. Das wolltest du doch immer.«
Damit musste Victoria sich
zufriedengeben. Allerdings korrespondierte sie weiter heimlich mit Camden und
erwähnte in ihren Briefen immer wieder zwischen Berichten über ihren Garten
und ihre Wohltätigkeitsbälle die eine oder andere Neuigkeit über Gigi. Vier Mal
im Jahr antwortete er, seine Briefe trafen mit der gleichen Regelmäßigkeit ein
wie die sich abwechselnden Jahreszeiten. Sie waren stets freundlich formuliert
und gaben nüchtern über sein Leben Auskunft. Gewiss, er musste doch bestimmt
vorhaben, eines Tages zurückzukehren, andernfalls würde er sich wohl kaum die
Mühe machen, Jahr für Jahr seiner Schwiegermutter zu
schreiben?
Und nach all der Zeit wollte Gigi
dieses zumindest akzeptable Arrangement jetzt auf einmal unbedingt zerstören.
Was ging nur im Kopf dieses Mädchens vor, dass es etwas so Schreckliches und
Skandalöses wie eine Scheidung riskieren wollte? Und das alles für diesen
höchst gewöhnlichen Lord Frederick, der nicht einmal gut genug war, ihr die
Wäsche zu waschen – ganz zu schweigen davon, Gigi gar ohne Wäsche zu berühren!
Allein der Gedanke machte Victoria ganz krank. Das einzig Gute daran war, dass
Camden sich nun mit dieser Ehe wieder auseinandersetzen musste. Vielleicht
kehrte er sogar zurück, vielleicht kam es zu einem leidenschaftlichen Streit
...?
Als Camden am Tag zuvor dann
telegrafiert hatte, dass er wieder in England weilte, hätte sie am liebsten vor
Glück getanzt. Sofort hatte sie ihm ebenfalls ein Telegramm geschickt, in dem
sie ihre große Freude nicht verbergen konnte. An diesem Morgen war dann seine
Antwort eingetroffen, eine durch und durch schlechte Nachricht:
Verehrte Mrs. Rowland stopp Bitte
begraben Sie um Ihrer selbst willen alle Hoffnungen stopp Gedenke, Scheidung
zuzustimmen stopp Nach einer gewissen Zeit stopp Stets der Ihre stopp Camden
Daraufhin hatte sie nach dem
nächsten Gartengerät gegriffen und all ihre aufwändig gezüchteten, seltenen Orchideen
verstümmelt. Jetzt ließ sie die Schere sinken wie ein reuiger Mörder die
Tatwaffe. So durfte sie nicht weitermachen, andernfalls landete sie in der
Anstalt – eine alte Frau mit grau gesträhntem Haar, die das Kissen anflehte, doch
im Bett zu bleiben.
Na schön, sie konnte diese Scheidung
also nicht aufhalten. Aber dann würde sie eben einen anderen Duke für Gigi
finden. Tatsächlich lebte hier, von ihrem Cottage aus gesehen, einer geradewegs
die Straße hinunter, nur ein paar Meilen von der Küste entfernt. Seine Gnaden
war ein ziemlich furchteinflößender
Eremit, dabei aber durchaus bester körperlicher und geistiger Verfassung. Und
mit seinen fünfundvierzig Jahren war er auch keineswegs zu alt für Gigi, die
der dreißig gefährlich nahe kam.
Victoria hatte einmal selbst ein
Auge auf den Duke geworfen. Damals hatte sie in diesem Cottage genau neben
seinem Landsitz gelebt und war ein junges Mädchen im heiratsfähigen Alter
gewesen. Das lag nun allerdings dreißig Jahre zurück, und niemand ahnte etwas
von diesem alten Traum. Und der Duke, nun, der wusste nicht einmal, dass sie
existierte.
Doch jetzt musste Victoria ihre
herzoginnenhafte Zurückhaltung aufgeben, vergessen, dass sie
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