Sherry Thomas
hatte Gigi noch nie etwas abgewinnen
können. Miss Capulet hätte eben den Mann heiraten sollen, den ihre Eltern für
sie ausgesucht hatten, um dann eine glühende, aber diskrete Affäre mit Mr.
Montague zu beginnen. Nicht nur wäre die Gute so am Leben geblieben, ihr wäre
mit der Zeit auch aufgefallen, dass Romeo nichts als ein unreifer Knabe war,
der kaum mehr zu bieten hatte als dumme Plattitüden. Es ist der Ost und
Julia die Sonne! Ja, ja, wirklich sehr hübsch.
»Wir kennen uns schon lange«,
erzählte Gräfin von Schweppenburg. »Aber natürlich hat Mama nicht erlaubt, dass
wir heiraten. Er ist nämlich auch nicht reich.«
»Verstehe schon«, sagte Gigi
höflich. »Sie möchten ihm treu bleiben.«
Gräfin von Schweppenburg zögerte.
»Ich weiß nicht. Mama wird nie wieder mit mir reden, falls ich keine gute
Partie mache. Leider fühle ich mich bei Fremden so ... unwohl. Ach, wenn Mr.
Saybrook doch nur infrage käme.«
Das Mädchen sank mit jedem Wort
tiefer in Gigis Achtung. Sie konnte jeder Frau nur applaudieren, die so vorteilhaft
wie irgend möglich heiraten wollte. Und auch jeder, die allem im Namen der
Liebe entsagte, obwohl Gigi selbst das nie getan hätte. Aber diese
Unentschiedenheit war grässlich. Weder schien Gräfin von Schweppenburg
entschlossen, ihrer Liebe zu diesem Camden Saybrook nachzugeben, weil er ihr
dafür zu arm war, noch widmete sie sich wirklich ganz der Jagd nach einem
anderen Gemahl, weil sie sich offensichtlich zu gern von Mr. Saybrook lieben
ließ.
»Er sieht sehr gut aus und ist auch
sehr liebenswürdig und freundlich.« Gräfin von Schweppenburg wurde immer
leiser, als würde sie mit sich selbst sprechen. »Er schreibt mir und schickt
schöne Geschenke, Sachen, die er selbst gemacht hat.«
Am liebsten hätte Gigi mit den Augen
gerollt, unterdrückte den Impuls aber. Also gab es tatsächlich jemanden, der
dieses nutzlose junge Ding liebte, während man sie vor der vornehmen
Gesellschaft ganz Europas auf und ab paradieren ließ, damit irgendein reicher
Mann sie sich schnappte.
Einen Augenblick lang war sie ganz
verzweifelt, weil sie selbst eine solche Liebe niemals im Leben kennenlernen
würde. Doch gleich darauf kam sie wieder zu Sinnen. Liebe war etwas für
Dummköpfe. Und Gigi Rowland war bestimmt kein Dummkopf.
»Das tut mir wirklich leid für Sie,
liebe Gräfin.«
»Danke. Ach, ich wünschte nur
...« Gräfin von Schweppenburg schüttelte den Kopf. »Vielleicht treffen
Sie ihn ja bei Ihrer Hochzeit.«
Gigi nickte und lächelte versonnen,
weil sie gedanklich bereits wieder mit der elegant eckigen Torte und ihrer beeindruckenden Hochzeitsfeier
beschäftigt war.
Nur kam es nie zu der Hochzeit
zwischen Philippa Gilberte Rowland und Carrington Vincent Hanslow Saybrook.
Zwei Wochen vor der Trauung und nach sechs Stunden kräftiger Zecherei
anlässlich seiner bevorstehenden Vermählung kletterten Seine Gnaden, der Duke
of Fairford, der Marquess of Tremaine, Viscount Hanslow und Baron Wolvinton auf
das Dach der Villa eines Freundes in London, um den Mond zu bewundern. Dabei
stürzte Carrington vier Stockwerke tief ab und starb mit gebrochenem Genick.
Kapitel 3
9. Mai 1893
Victoria Rowland war nicht ganz sie selbst.
Gerade hatte sie gedankenverloren in
ihrem geliebten Gewächshaus sämtliche Orchideen gemeuchelt. Die Blüten lagen
am Boden wie eine Blumenversion der Französischen Revolution.
Bestimmt zum tausendsten Mal
wünschte sie sich, dass der Duke of Fairford zwei Wochen länger gelebt hätte.
Nur zwei mickrige Wochen. Danach hätte er gern Gift nehmen, sich auf die
Schienen legen oder sich beim Warten auf den Zug eine Kugel in den Kopf jagen
dürfen.
Sie wollte unbedingt, dass Gigi eine
Duchess wurde. War das denn zu viel verlangt?
Duchess – so hatte alle Welt
Victoria gerufen, als sie noch jung war –, und dazu schön, mit besten Manieren
gesegnet, fröhlich und geradezu hoheitsvoll. Alle glaubten fest daran, dass
sie eines Tages einen Duke heiraten würde. Doch dann war ihr Vater fast um sein
gesamtes Vermögen betrogen worden, und durch die schwere Krankheit ihrer Mutter
hatte sich die finanzielle Situation der Familie in eine echte Katastrophe
verwandelt. Am Ende musste Victoria dann einen Mann nehmen, der zwei Mal so
alt war wie sie. Ein reicher Fabrikbesitzer, der sich etwas blaues Blut für
seine Nachkommen wünschte.
In gehobenen Kreisen hielt man John
Rowland auch nach seiner Heirat für einen ungehobelten Neureichen. Victoria war plötzlich in
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