Shining Girls (German Edition)
der anderen an der öligen, feuchten Plane hinauf. Noch vor einem Jahr hätte er das nicht geschafft. Aber nachdem er zwölf Wochen Nieten in die Triboro Bridge in New York gehämmert hat, ist er so stark wie der räudige Orang-Utan, dem er einmal auf einer Kirmes dabei zugesehen hat, wie er mit seinen bloßen Pranken eine Wassermelone in zwei Teile riss.
Von der gespannten Segeltuchplane kommt ein merkwürdig sprödes Geräusch, das ihn fürchten lässt, in dieses gottverdammte Loch zurückzustürzen. Aber die Plane hält. Dankbar zieht er sich über den Rand, und es ist ihm egal, dass er sich die Brust an den Nägeln aufreißt, mit denen die Plane befestigt ist. Später, wenn er in Sicherheit seine Verletzungen untersucht, wird er feststellen, dass die tiefen Kratzer aussehen, als hätte ihm eine leidenschaftliche Hure ihr Zeichen eingeritzt.
Da liegt er, das Gesicht im Schlamm, der Regen prasselt auf ihn nieder. Die Rufe haben sich entfernt, obwohl es nach Rauch riecht und sich das Licht von einem halben Dutzend Bränden mit dem Grau der Dämmerung vermischt. Ein paar Takte Musik dringen durch die Nacht, herübergetragen von einem Wohnungsfenster, aus dem sich vielleicht gerade die Mieter beugen, um das Spektakel zu genießen.
Harper kriecht auf dem Bauch durch den Schlamm, der Schmerz lässt Blitze durch seinen Kopf zucken – oder vielleicht sind sie auch real. Es ist eine Art Wiedergeburt. Als er ein passendes Stück Holz findet, auf das er sich stützen kann, richtet er sich auf und hinkt weiter.
Sein linker Fuß ist zu nichts zu gebrauchen, er zieht ihn hinter sich her. Aber er humpelt trotzdem weiter, durch den Regen und die Dunkelheit, weg von der brennenden Barackensiedlung.
Alles geschieht aus einem bestimmten Grund. Weil er gezwungen ist zu gehen, findet er das Haus. Weil er das Jackett genommen hat, besitzt er den Schlüssel.
Kirby
18 . Juli 1974
Es ist diese bestimmte Zeit ganz früh am Morgen, wenn die Dunkelheit schwer lastet, nachdem keine Züge mehr fahren und der Verkehr versiegt ist, aber bevor die Vögel anfangen zu zwitschern. In dieser Nacht herrscht eine Affenhitze. Die Art stickiger Wärme, die sämtliche Insekten hervorlockt. Motten und fliegende Ameisen klatschen gegen die Verandalampe wie in einem ungleichmäßigen Trommeltakt. Ein Moskito sirrt irgendwo oben an der Zimmerdecke.
Kirby liegt wach im Bett, streichelt die Nylonmähne des Ponys und lauscht auf die Geräusche des leeren Hauses, auf sein Knurren wie ein hungriger Bauch. «Es arbeitet», sagt Rachel immer. Aber Rachel ist nicht da. Und es ist spät, oder früh, und Kirby hat außer muffigen Cornflakes beim lange vergangenen Frühstück nichts zu essen gehabt, und da sind Geräusche, die nicht zum Arbeiten gehören.
Kirby flüstert dem Pony zu: «Das ist ein altes Haus. Wahrscheinlich ist es nur der Wind.» Nur dass die Verandatür eingeklinkt ist und nicht schlagen sollte. Die Dielen sollten nicht knarren wie unter dem Gewicht eines Einbrechers, der sich auf Zehenspitzen zu ihrem Zimmer schleicht, mit einem Sack in der Hand, in den er sie stecken und fortschleppen will. Oder vielleicht ist es die lebendige Puppe aus dieser gruseligen Fernsehserie, die auf ihren kleinen Plastikfüßen im Haus herumtapst. Kirby darf die Sendung eigentlich nicht sehen.
Kirby schlägt das Bettlaken zurück. «Ich gehe mal nachsehen, okay?», erklärt sie dem Pony, denn der Gedanke daran, abzuwarten, bis das Monster zu ihr kommt, ist nicht auszuhalten. Sie schleicht zur Tür, die ihre Mutter mit exotischen Blumen und Kletterranken bemalt hat, als sie vor vier Monaten eingezogen sind, bereit, sie wem (oder was) auch immer ins Gesicht zu schmettern, das da die Treppe heraufkommt.
Sie steht hinter der Tür, als wäre sie ein Schutzschild, die Ohren gespitzt, und zupft an der groben Farboberfläche herum. Eine Tigerlilie hat sie schon bis aufs nackte Holz abgezogen. Ihre Fingerspitzen brennen. Die Stille schrillt in ihrem Kopf.
«Rachel?», flüstert Kirby so leise, dass außer dem Pony sie niemand hören kann.
Ein dumpfes Poltern, sehr nahe, dann ein Knallen und ein Splittern. «Shit!»
«Rachel?», sagt Kirby lauter. Ihr Herz rast in ihrer Brust.
Lange Stille. Dann sagt ihre Mutter: «Geh wieder ins Bett, Kirby, mir geht’s gut.» Kirby weiß, dass das nicht stimmt. Aber wenigstens ist es nicht Talky Tina, die lebende Killerpuppe.
Sie hört auf, an der Farbe zu zupfen, öffnet die Tür und geht über den Flur, macht einen Bogen um
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