Sommerfrost - Die Arena-Thriller
EIN S
D a war es wieder. Das Brummen. Mehr ein Dröhnen. Wie von einem fernen Motor. Eins, zwei, drei, vier – aus. Eins, zwei, zählte sie, Pause, dann wieder das Dröhnen. Eins, zwei – aus. Sie wartete, zählte, kam diesmal bis vier, dann fing es wieder an. Jedes Mal, wenn sie sich in den Schlaf fallen lassen wollte, schreckte sie hoch, bis sie Angst hatte einzuschlafen. Angst davor, endlich in die Schwerelosigkeit des Schlafes zu sinken. Jedes Mal riss das Dröhnen sie wieder wie an einer Halteleine zurück, hinderte sie, endlich nur noch zu schweben. Sie wartete, lauschte, sie zog die Bettdecke weit über die Ohren, verkroch sich darunter, doch auch das half nichts. Woher kam es nur? Was war es? Eine Wasserpumpe wahrscheinlich, meinte ihre Mutter, die das Geräusch aber noch nicht einmal hörte. Eigentlich hörte es niemand. Nur sie. Seit vier Tagen. Ich darf nicht hinhören, sagte sie sich. Versuchte es. Aber da war es schon wieder, das Dröhnen. Nein, es ging nicht. Watte, dachte sie, ich muss mir Watte in die Ohren stopfen. Sie schlug die Decke zurück, tapste barfüßig über die kalten Fliesen durch den Flur, an der offenen Schlafzimmertür ihrer Mutter vorbei, die tief und gleichmäßig atmete. Warum kann sie schlafen?, dachte Lyra und merkte, wie sie wütend wurde. Ihre Mutter ließ sie abends allein, wenn sie eingeladen war, und amüsierte sich auf Partys, von denen sie jedoch behauptete, sie seien überhaupt nicht oder zumindest nicht annährend so amüsant, wie Lyra sich das vorstellte. Ihre Mutter ging spät ins Bett, fiel sofort in bleiernen Tiefschlaf und stand am Morgen schrecklich gut gelaunt in Lyras Zimmer und posaunte: »Guten Morgen! Ein neuer, wunderbarer Tag, Lyra!« Lyra hingegen konnte nicht einschlafen, träumte oft verrücktes Zeug und am Morgen fühlte sie sich wie gerädert. Und nun auch noch dieses Dröhnen. Das Leben war so ungerecht! Im Bad vermied sie es, Licht anzuknipsen, da sie sonst nur noch wacher würde, zupfte im Dunkeln aus dem Behälter neben dem Spiegel ein paar Wattefetzen von den Pads zum Abschminken und stopfte sie sich in die Ohren. Wie Odysseus und seine Männer, dachte sie, die den Gesang der Sirenen nicht hören durften, weil sie sonst verloren gewesen wären. Letzte Woche hatten sie in Geschichte einen Test geschrieben und Lyra hatte sämtliche Daten und die Regierungszeiten irgendwelcher dämlichen Könige völlig durcheinandergeworfen. Wozu brauchte man das überhaupt? Wozu musste sie solche Sachen lernen, die doch jeder Erwachsene längst vergessen hatte? Und was nutzte der Geschichtsunterricht, wenn man keine Erkenntnisse für das eigene Leben daraus ziehen konnte? Das brachte einem die Schule natürlich nicht bei... Oder hatten die Lehrer etwa Rezepte parat, wie sie mit einer Mutter zusammenleben sollte, die sich schrecklich gesund ernährte, jeden Tag ins Fitness-Studio rannte und nicht kapieren wollte, dass ihre Tochter das ziemlich bescheuert fand? Und wussten die Lehrer etwa, ob Lyra es gut oder schlecht finden sollte, dass ihre Mutter einen Freund hatte, bei dem sie mehrmals die Woche übernachtete und Lyra allein ließ? Nein, für solche Themen gab es kein Schulfach. So schrecklich diese schlaflosen Stunden waren, sie eröffneten Lyra einen glasklaren Blick auf die Dinge ihres Lebens. Doch diese Tatsache half ihr wenig, wenn sie in drei Stunden aufstehen und einen ganzen, langen Schultag durchhalten musste.
Lyra drehte den Wasserhahn auf und trank einen Schluck, als sie innehielt und den Kopf schüttelte. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, dass ja seit heute Ferien waren. Wieso nur war sie so durcheinander? Das verdammte Dröhnen musste daran schuld sein. Sie ging wieder zurück in ihr Zimmer, schlüpfte ins Bett, zog die Decke über die Ohren und lauschte. Nur dumpfe Stille. Kein Dröhnen. Lag es an der Watte oder hatte der Motor – oder was immer diese Geräusche erzeugte – seinen Geist aufgegeben? Nein, da war nichts mehr. Endlich. Endlich konnte sie in ihr wei ches Kissen sinken und sich in die süße Schwerelosigkeit des Schlafes fallen lassen.
»Lyra! Lyra, sag mal, bist du taub?« Sie öffnete ihre Augen. Es war schon hell und das Gesicht ihrer Mutter schwebte über ihr. Warum sprach sie so leise? Nach ein paar Sekunden erinnerte sich Lyra an die Watte in ihren Ohren und nahm sie heraus. »Hast du Ohrenschmerzen?« Sofort nahm die Stimme ihrer Mutter einen besorgten Tonfall an. Das konnte Lyra überhaupt nicht ausstehen. »Nein.«
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