Shining Girls (German Edition)
die Glassplitter, die wie Diamanten zwischen den verblühten Rosen mit ihren vertrockneten Blättern und schwammigen Köpfen in einer Pfütze aus stinkendem Blumenwasser liegen. Die Tür ist einen Spaltbreit für sie offen gelassen worden.
Jedes neue Haus ist älter und schäbiger als das letzte, auch wenn Rachel die Türen und Schränke anmalt und manchmal sogar die Dielen, um es für sie in Besitz zu nehmen. Sie suchen die Bilder zusammen aus Rachels großem grauen Kunstband heraus: Tiger oder Einhörner oder Heilige oder braune Inselmädchen mit Blumen im Haar. Kirby benutzt die Bilder als Anhaltspunkte dafür, wo sie gerade wohnen.
Dieses
Haus hat die schmelzenden Uhren auf dem Küchenschrank über dem Herd, was bedeutet, dass der Kühlschrank links steht und das Badezimmer unter der Treppe ist. Obwohl die Raumaufteilung in jedem Haus wechselt, sie manchmal einen Hof haben und es in Kirbys Zimmer ab und zu einen Wandschrank gibt, sie aber auch froh sein kann, wenn sie bloß Regale hat, bleibt Rachels Zimmer immer gleich.
Sie sieht darin eine Piratenbucht. («Piratenhöhle» korrigiert ihre Mutter, aber Kirby stellt sich eine versteckte Zauberbucht vor, eine, in die man hineinsegeln kann, wenn man Glück hat und die richtigen Hinweise auf deiner Karte stehen.)
Kleider und Schals liegen überall im Zimmer, als hätte eine Zigeunerpiratenprinzessin einen Wutanfall gehabt. Eine Sammlung Modeschmuck hängt an den goldenen Schnörkeln eines ovalen Spiegels, der das Erste ist, was Rachel aufhängt, wenn sie wieder in ein neues Haus ziehen, wobei sie sich jedes Mal unweigerlich mit dem Hammer auf den Daumen schlägt. Manchmal spielen sie Verkleiden, und Rachel schmückt Kirby mit sämtlichen Ketten und Armreifen und nennt sie «mein Weihnachtsbaummädchen», obwohl sie jüdisch sind, oder jedenfalls zur Hälfte.
Am Fenster hängt ein Zierornament aus farbigem Glas, das in der Nachmittagssonne Regenbögen durchs Zimmer und über das schräg gestellte Zeichenbrett und die jeweilige Illustration tanzen lässt, an der Rachel gerade arbeitet.
Als Kirby ein Baby war und sie noch in der Stadt wohnten, stellte Rachel den Laufstall neben ihrem Arbeitstisch auf, sodass Kirby herumkrabbeln konnte, ohne sie zu stören. Sie hat meistens für Frauenzeitschriften gezeichnet, aber jetzt «ist mein Stil unmodern, Baby – da draußen geht es sehr flatterhaft zu». Kirby gefällt der Klang des Wortes flattern. Flattern-rattern-schnattern-flackern. Und es gefällt ihr, die Zeichnung ihrer Mutter mit der winkenden Kellnerin zu sehen, die zwei buttertriefende Pfannkuchenstapel balanciert, wenn sie auf dem Weg zum Eckladen an
Doris’ Pancake House
vorbeikommen.
Aber jetzt ist das Glasornament kalt und tot, und die Nachttischlampe ist halb mit einem gelben Schal verhängt, sodass der ganze Raum ekelhaft ungesund wirkt. Rachel liegt auf dem Bett, hat sich ein Kissen übers Gesicht gezogen und ist noch komplett angezogen, mit Schuhen und allem. Ihre Brust zuckt unter ihrem schwarzen Spitzenkleid, als hätte sie Schluckauf. Kirby steht an der Tür, will unbedingt, dass ihre Mutter sie bemerkt. Ihr Kopf platzt gleich vor Worten, von denen sie nicht weiß, wie sie sie sagen soll.
«Du hast im Bett die Schuhe an», bringt sie schließlich heraus.
Rachel hebt das Kissen vom Gesicht und sieht ihre Tochter aus verschwollenen Augen an. Ihr Make-up hat eine schwarze Schmierspur über das Kissen gezogen. «Sorry, Honey», sagt sie mit ihrer brüchigen Stimme. (Bei «brüchig» muss Kirby an abgebrochene Zähne denken, so wie bei Melanie Ottesen, als sie vom Kletterseil gefallen ist. Oder an angeschlagene Gläser, aus denen man nicht mehr trinken soll.)
«Du musst deine Schuhe ausziehen!»
«Ich weiß, Honey.» Rachel seufzt. «Schimpf nicht mit mir.» Sie schiebt die schwarzbraunen Riemchenpumps mit den Zehen von den Füßen und lässt sie auf den Boden poltern. Sie rollt sich auf den Bauch. «Kratzt du mir den Rücken?»
Kirby steigt auf das Bett und setzt sich im Schneidersitz neben sie. Das Haar ihrer Mutter riecht nach Rauch. Sie folgt dem verschlungenen Spitzenmuster des Kleides mit den Fingernägeln. «Warum weinst du?»
«Ich weine nicht richtig.»
«Doch, tust du.»
Ihre Mutter seufzt. «Es ist einfach diese Zeit im Monat.»
«Das sagst du immer», sagt Kirby missmutig und fügt als Nachsatz hinzu: «Ich hab ein Pony.»
«Ich kann es mir nicht leisten, dir ein Pony zu kaufen.» Rachels Stimme klingt abwesend.
«Nein, ich hab
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