Shining Girls (German Edition)
Zehen selbst Richtung Körper ziehen?», fragt der Arzt und schaut genau hin. «Oh, gut. Das ist ein gutes Zeichen. Besser, als ich erwartet habe. Großartig. Sehen Sie das hier?», sagt er zu der Krankenschwester und nimmt die Kuhle oberhalb der Ferse zwischen die Finger. Harper stöhnt. «Hier sollte die Sehnenverbindung sein.»
«Ja», die Krankenschwester nimmt die Haut zwischen die Finger. «Ich spüre es.»
«Was bedeutet das?», sagt Harper.
«Es bedeutet, dass Sie die nächsten paar Monate flach auf dem Rücken im Krankenhaus verbringen sollten, Sportsfreund, aber ich vermute, das kommt für Sie nicht in Betracht.»
«Wenn es nicht gratis ist.»
«Oder Sie besorgte Kunden haben, die bereit sind, Ihre Erholungszeit zu finanzieren, wie unser Radium-Girl.» Der Arzt zwinkert ihm zu. «Wir können Sie eingipsen und Sie mit einer Krücke gehen lassen. Aber ein Sehnenriss heilt nicht von selbst. Sie sollten mindestens sechs Wochen lang nicht laufen. Ich kann Ihnen einen Schuhmacher empfehlen, der auf medizinisches Schuhwerk spezialisiert ist, um den Absatz erhöhen zu lassen, das hilft ein bisschen.»
«Und wie soll ich das machen? Ich muss arbeiten.» Harper ist genervt von dem Jammerton, der sich in seine Stimme geschlichen hat.
«Wir alle haben mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da müssen Sie bloß mal die Krankenhausverwaltung fragen. Ich schätze, Sie tun, was Sie können.» Wehmütig fügt er hinzu: «Ich vermute, Sie haben keine Syphilis, oder?»
«Nein.»
«Ein Jammer. In Alabama wird eine Studie angefangen, und man hätte für Ihre gesamte medizinische Versorgung bezahlt, wenn Sie teilgenommen hätten. Allerdings hätten Sie dafür ein Schwarzer sein müssen.»
«Damit kann ich ebenfalls nicht dienen.»
«Zu dumm.» Der Arzt zuckt mit den Schultern.
«Werde ich noch laufen können?»
«Oh ja», sagt der Arzt. «Aber ich würde nicht darauf hoffen, noch bei Mr. Gershwin vorzutanzen.»
Harper hinkt aus dem Krankenhaus, die Rippenbrüche verbunden, den Fuß in Gips, das Blut voller Morphium. Er greift in die Tasche, um festzustellen, wie viel Geld er noch hat. Zwei Dollar und ein paar Münzen. Doch dann streifen seine Finger den gezackten Bart des Schlüssels, und in seinem Kopf öffnet sich etwas wie ein Funkempfänger. Vielleicht ist es das Schmerzmittel. Oder vielleicht hat es schon immer auf ihn gewartet.
Ihm ist noch nie zuvor aufgefallen, dass die Straßenlampen summen, auf einer niedrigen Frequenz, die sich hinter seine Augen bohrt. Und obwohl es Nachmittag ist und die Lampen ausgeschaltet sind, scheinen sie zu flackern, wenn er unter ihnen hindurchgeht. Und das Summen springt zur nächsten Lampe über, als wolle es ihn weiterlocken.
Hier entlang
. Und er könnte schwören, eine knisternde Musik zu hören, eine ferne Stimme, die nach ihm ruft, als käme sie aus einem schlecht eingestellten Radio. Er folgt dem Pfad der summenden Straßenlampen, geht, so schnell er kann, aber die Krücke behindert ihn.
Er geht die State Street runter, und das Summen führt ihn durch den West Loop in die Schluchten der Madison Street mit ihren Wolkenkratzern, die auf jeder Seite vierzig Stockwerke hoch emporragen. Er kommt durch die Skid Row, wo er mit zwei Dollar eine Zeitlang ein Bett bezahlen könnte, aber das Summen und die Lampen führen ihn immer weiter, in den Black Belt, wo die schäbigen Jazzkneipen und Cafés billigen Mietshäusern weichen, vor denen zerlumpte Kinder auf der Straße spielen und alte Männer mit selbstgedrehten Zigaretten auf den Eingangstreppen sitzen und ihn mit unheilvollen Blicken beobachten.
Die Straße wird schmaler, und die Gebäude rücken enger zusammen, werfen kühle Schatten auf den Bürgersteig. Eine Frau lacht in einer der Wohnungen weiter oben, ein unvermitteltes, hässliches Geräusch. Wohin er auch blickt, sieht er Zeichen. Kaputte Fenster in den Häusern, handgeschriebene Schilder in den leeren Schaufenstern der Erdgeschosse. «Geschäftsaufgabe», «Bis auf Weiteres geschlossen», und einmal einfach bloß «Sorry».
Kühle Feuchtigkeit wird vom See herangeweht, der Wind fährt schneidend durch den trostlosen Nachmittag und unter sein Jackett. Während er tiefer in das Viertel mit den Lagerhäusern geht, werden die Passanten spärlicher, bis überhaupt keine mehr zu sehen sind, und in ihrer Abwesenheit schwillt die Musik an, süß und schwermütig. Und jetzt erkennt er auch die Melodie. Somebody from somewhere. Und die Stimme flüstert
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