Shiva Moon
bisschen zu therapieren. Ich hatte einen kleinen Schock bekommen, als ich das «International Reservation Office» betrat. So habe ich auch mal ausgesehen. Und wenn man nicht ganz genau hinschaut, sehe ich immer noch so aus. Onkel Helge ist zurück. Overland forever.
Nach all den Jahren des erwachsenen Reisens rutsche ich wieder demütig und vom Leben kleingekriegt von Zeit zu Zeit ein Plätzchen weiter, und als ich den Flügel der Sitzmöbel-Hufeisen-Formation verlasse, um auf die Gerade einzubiegen, stelle ich Scarlets Yogalehrer die Frage, ob er mir inzwischen ein paar Atemtechniken gegen die Kälte, die in viertausend Meter Höhe herrscht, beibringen kann. Denn meine Angst ist ja nicht, dass die Pässe schon zu sind. Mein Horror ist, sie sind noch offen. Scarlets Yogalehrer sagt, er könne mir durchaus Techniken zum Entfachen der inneren Hitze vermitteln, aber er hält es für realistischer, mir die Geschäfte zu zeigen, in denen es warme Kleidung zu kaufen gibt.
«Mindestens zwei Pullover, besser drei, dazu eine gefütterte Jacke. Und Sie brauchen Unterwäsche mit langen Armen und langen Beinen, und davon müssen Sie minimum zwei Garnituren übereinander tragen, außerdem brauchen Sie eine Mütze und einen Schal.»
«Und ich brauche etwas, von dem ich nicht weiß, wie es auf Englisch heißt. Auf Deutsch heißt es Wärmflasche.»
«Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.»
«Sicher?»
«Ich glaube, Sie meinen Handschuhe.»
«Nein, ich meine Wärmflasche.»
Nachdem wir den Platz im Zug reserviert haben, kaufen wir all diese Dinge in einem Fachgeschäft für Bergsteigerausrüstung namens «United Colors of Benetton». Sie haben alles, bis auf die Wärmflasche, und weil er mir wirklich sehr geholfen hat, lade ich Scarlets Yogalehrer ins «United Coffee House» zum Essen ein.
Das «United Coffee House» ist das einzige Lokal, das ich in New Delhi empfehlen kann, weil man tief gepolstert unter Lampen sitzt, die es auch in chinesischen Edelbordellen gibt, das Essen ist gut und fast günstig, und es wird Alkohol ausgeschenkt. Vornehmlich Sikhs wissen Letzteres zu schätzen, deshalb sieht man viele Turbane im Restaurant. Und da naht auch schon ein Ober, und eine Einmannkapelle nimmt ihre Arbeit auf. Ein nicht fetter, aber feister Sänger und ein selbstspielendes Tasteninstrument mit Rhythmusmaschine unterhalten die Gäste mit einem Potpourri aus allgemein bekanntem Liedgut wie «Yesterday» und «Country Roads», und ich denke, dazu passt ein Tomatensandwich ganz gut. Scarlets Yogalehrer entscheidet sich für ein südindisches Gericht.
«Was wollen Sie eigentlich an der Quelle des Ganges?», fragt er mich. «Ihre Sünden abwaschen?»
«Nein, auf keinen Fall. Dafür ist das Wasser viel zu kalt. Ich tippe nur mal kurz mit dem Finger rein, mehr nicht.»
«Sie fahren morgen fünf Stunden mit dem Zug undfünfzehn Stunden mit dem Taxi, und dann gehen Sie nochmal (er erinnert sich) drei Tage zu Fuß, und das alles bei diesen grässlichen Temperaturen, nur um mal kurz mit dem Finger reinzutippen?!»
«Nein, natürlich nicht. Das mache ich nur, weil jeder Fluss und jede Geschichte einen Anfang hat. Und ohne den Anfang geht es leider nicht.»
In Wahrheit habe ich keinen Mumm in den Knochen. In Wahrheit will ich ein Buch schreiben, das an der Quelle beginnt und an der Mündung endet, und ich traue es mir nicht zu, wenigstens die Kälte-Etappe der Reise rein schriftstellerisch zu bewerkstelligen. In Wahrheit bin ich ein elender Erleben-Müsser. In Wahrheit hat Scarlet Recht.
«Glauben Sie an Reinkarnation?», frage ich, um das Gespräch eine Nuance belangloser zu gestalten.
«Nein, eigentlich nicht.»
Das hatte ich erwartet. Scarlets Yogalehrer meint, Glauben sei grundsätzlich nicht sein Ding. Er weiß lieber, und solange er nicht weiß, versucht er zu verstehen. Glauben sei das glatte Gegenteil von Verstehen. Glauben sei die Kapitulation. Außerdem: «Wieso fragen Sie mich? Das wissen doch nur die Toten. Alles, was Lebende darüber sagen, ist reine Spekulation.»
Während Scarlets Yogalehrer spricht, sehe ich einer Ratte dabei zu, wie sie einem bodenlangen Vorhang entschlüpft und zu einem der Tische zischt, um unter ihm zu verschwinden. Der Gast, der an dem Tisch sitzt und isst, hat sie glücklicherweise nicht gesehen. Glücklicherweise, weil er ein Ausländer ist. Inder haben mit einer Ratte im Restaurant kein Problem.Auch nicht mit zwei. Ich habe mal gehört, dass in Bombay auf einen Einwohner zwei Ratten
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