Shiva Moon
Transformation:
Am Anfang steht das Reingehen in den Schmerz, in das Leiden. Wer das richtig macht, weiß zwar noch, dass er nicht sterben wird, aber er weiß es nicht mehr hundert Prozent, und der nächste Schritt bringt dann folgerichtig das völlige Vergessen dieses Wissens mit sich. Würde Scarlet mich verstehen, könnte mir das später peinlich werden, denn ich bitte eine ganze Reihe von Menschen, an denen ich mich versündigt habe, um Verzeihung, nur sie nicht.
Zweite Phase. Sie ist angenehmer. Man stirbt nicht mehr. Man ist schon tot. Die Gesichter am Grab, die Tränen, die Nachrufe. Und? Alles geregelt? Ich glaube, Sie wissen, worauf ich hinauswill. Die Frage, ob alles geregelt ist, beinhaltet die Frage, ob alles geschafft worden ist, alles erfüllt wurde, abgeschlossen, wahr gemacht. Hat man es vollbracht? Oder gibt es da noch Buchpläne und Himalaya-Pässe-Schließungszeiten? Mit der Beantwortung dieser Fragen endet die Technik zur Beschleunigung des Krankheitsverlaufs, und der Gesundungsprozess fängt an.
Ich weiß nicht, was Fachleute von meiner Technik halten, aber normalerweise dauert eine Delhi-Belly mindestens eine Woche und nicht schlappe drei Tage, wie in meinem Fall. Und noch eine gute Nachricht. Scarlet findet durch einen Anruf beim staatlichen Tourist Office heraus, dass die Pässe länger offen bleiben. Ich habe drei Tage verloren und zehn gewonnen. So gesehen ist Krankheit nicht Schicksal, sondern Glück.
Das Glück, Amina näher kennen zu lernen, Scarlets Hausmädchen. Hausfrau wäre besser gesagt, Amina ist fünfzig oder so, obwohl man sich bei Indern der unteren Gehaltsstufen durchaus auch schon mal schwer irren kann, was ihr Alter angeht. Amina würde sich selbst nicht den unteren Gehaltsstufen zuordnen.
«Mam very goooooooood! Mam pay me 4000 Rupeeeee!»
Teilt man das durch fünfzig, hat man den entsprechenden Eurobetrag.
«Mam very gooooooooooood!»
Und:
«Amina very happiiiiiiiiiiiiiiiiii!»
Und dann singt sie den ganzen Tag. Das ist nicht so dahergesagt. Sie singt tatsächlich ununterbrochen. Und überall. So weiß man immer, wo sie ist. Sie singt sogar vor der Haustür. So hört man sie kommen. Und immer dasselbe Lied, wenn es überhaupt ein Lied ist und nicht irgendein Trallala, eine Art Vogelgezwitscher mit menschlicher Zunge vorgetragen. Amina zwitschert beim Abwasch, beim Bettenmachen, beim Teppichklopfen, beim Bodenwischen das Lob auf ihre Mam, vielleicht lobpreist sie aber auch direkt die Güte des Lebens oder die Güte ihres Gottes, in diesem Fall die Güte Allahs.
Witzig ist auch der Besitzer des Chai-Shops am Markt der Kolonie Nizamuddin. Besser gesagt: Seine Dekoration ist witzig. Werbeplakate, auf denen Unternehmen ihre Produkte mit den dazu passenden Göttern anpreisen. An der linken Wand hängt Shiva, an der rechten Ganesha. Einen Job des elefantenköpfigen Ganesha habe ich bereits erwähnt: «Überwinderaller Schwierigkeiten». Aber das ist nur ein Nebenjob, ein zweites Standbein sozusagen, hauptberuflich ist er der «Hüter der Schwelle» und wird auch so genutzt. Jedes von Hindus bewohnte Haus, jeder Palast, jede Hütte hat vor dem Eingang einen Altar für ihn, denn Ganesha lässt niemanden rein, der nicht rein soll, weder Mensch noch Dämon, nicht mal Götter.
Diesen Ruf erwarb er sich bereits in früher Kindheit, als er noch wie jeder kleine Junge aussah und einen Menschenkopf hatte. Seine Mutter, eine hochrangige, bildschöne Göttin namens Shakti, wollte in Ruhe baden und bat ihn deshalb, vor dem Badezimmer zu wachen und niemanden, aber wirklich niemanden reinzulassen, solange sie in der Wanne liege. Und wer kommt vorbei und will unbedingt rein? Der Gott auf dem gegenüber hängenden Plakat. Und Shiva ist nicht irgendwer. Shiva gehört zu den Big Players im hinduistischen Götterhimmel, zu den Großen Drei: Krishna ist der Schöpfer (Liebe), Vishnu ist der Bewahrer (Ordnung), und Shiva ist der große Zerstörer, der alles in Schutt und Asche legt, damit alles wieder von vorne anfangen kann. «Und wenn ich alles sage, dann meine ich alles, auch dich, du Knirps.» Ganesha hat darauf wahrscheinlich so etwas wie «Verpiss dich, Opi!» geantwortet, denn Shivas Reaktion war überzogen. Er schlug so heftig zu, dass der Kopf des Jungen nie mehr gesehen ward, und betrat daraufhin das Bad seiner Geliebten. Falls er gehofft hatte, sie erhöre nun sein Freien, muss er ziemlich frustriert gewesen sein, denn er hörte die liebliche Göttin nur «Scheiße, Scheiße,
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