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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sie in Frieden ziehen, sobald die anderen das Viertel verlassen haben ...« Balken sprach mit sehr ruhiger, friedfertiger Stimme, man hätte denken können, er erzähle seinen Kindern eine Gutenachtgeschichte.
    Die Polizisten packte der Schrecken, durchs Fenster des Zimmers sah man, dass es im Hof von Männern wimmelte, die bis an die Zähne bewaffnet waren.
    Unsere Freunde bildeten einen Korridor, durch den die Polizisten einer nach dem anderen mit gesenkten Köpfen davonschlichen.
    Ich war wie aufgeputscht, ich hatte Lust zu tanzen, schreien, singen, wollte etwas Großes ausdrücken, das ich noch nicht begriff. Ich hatte das Gefühl, Teil einer starken Welt zu sein, dazuzugehören, es kam mir vor, als wäre alle Kraft dieser Welt in mir gebündelt.
    Ich weiß nicht wie und warum, aber plötzlich sprang ich von der Bank auf und rannte wie ein Verrückter ins große Zimmer, wo sich der rote Winkel befand. Auf der Ablage, auf einem roten Tuch mit Goldstickerei, lagen die Pistolen meines Vaters, meines Onkels, meines Großvaters und unserer Gäste. Ohne zu überlegen nahm ich Großvaters Tokarev, rannte hinter den Polizisten her und zielte auf sie. Ich weiß nicht genau, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf ging, ich spürte nur eine Art Euphorie, Freude am Dasein. Die Polizisten trotteten zur Haustür. Ich blieb vor einem stehen und starrte ihn an: Seine Augen waren müde und wirkten entzündet, der Blick war traurig, gottverlassen. Ich erinnere mich, dassich einen Augenblick lang seinen ganzen Hass auf mir spürte. Ich zielte auf das Gesicht und versuchte mit aller Kraft abzudrücken, aber der Abzug bewegte sich keinen Millimeter. Meine Hand wurde immer schwerer, und ich war nicht länger in der Lage, die Pistole hochzuhalten. Mein Vater fing an zu lachen und sagte:
    »Komm sofort her, Barfuß! Weißt du nicht, dass man im Haus nicht schießen darf?«
    Die Polizisten zogen ab, und ein Trupp Krimineller geleitete sie bis zur Grenze unseres Viertels, und als die Eskorte zurück war, setzte sich auch das Auto mit den Geiseln Richtung Stadt in Bewegung. Vorneweg fuhr ein Auto mit Balkens Freunden, ganz langsam, damit die Polizisten sich nicht einfach davonmachen konnten und die Leute ausgiebig Gelegenheit hatten, sie zu beschimpfen und in einer Art Siegesfeier aus dem Viertel hinauszugeleiten. Vor der Abfahrt hatte jemand eine Schnur mit allerlei Wäsche hinten am Auto befestigt: Unterhosen, Büstenhalter, kleine Handtücher, Lumpen und sogar eins meiner T-Shirts, das mein Vater zu diesem Werk der Verunglimpfung beigesteuert hatte. Die Leute kamen aus den Häusern, um sich das Schauspiel dieses Schwanzes aus Wäsche anzuschauen. Die Kinder liefen hinter dem Auto her und bewarfen es mit Steinen.
    »Nun seht euch bloß diese Köter an! Kommen in die Unterstadt, um unsere Wäsche zu klauen!«, schrie jemand aus der Menge, die zu den Kommentaren pfiff und Schmähungen rief.
    »Was wollen die bloß damit? Die Herren in der Regierung geben ihren Hunden wohl keine Knochen mehr, was? Jetzt haben sie nicht mal mehr Unterhosen!«
    »Was ist daran schlimm, Brüder, wenn man arm ist und sich nicht mal mehr Unterhosen leisten kann? Wenn sie ehrbar und als echte Männer zu uns kämen, mitunverhüllten Gesichtern, dann würden wir jedem von ihnen eine schöne sibirische Unterhose schenken!«
    »Aber ja, sie sollten nur vorher Bescheid sagen, damit wir ihnen vorher noch was reintun können, in die Unterhose!«
    So schrien und lachten die Leute. Großvater Kastanie hatte sogar sein Akkordeon mitgebracht und lief nun spielend und singend hinter dem Auto her. Ein paar Frauen begannen zu tanzen, und er grölte so laut er konnte ein altes sibirisches Lied, während er den Kopf hob, auf dem die Mütze saß, die Acht Dreiecke, und wie ein Blinder die Augen schloss:

    Sprich zu mir, Schwester Lena, sprich auch du, Bruder Amur! 1
    Ich habe mein Land von einem Ende zum anderen bereist,
    habe Züge angehalten und mein Gewehr singen lassen,
    und nur die alte Taiga weiß, wie viele Köter ich getötet habe!

    Und jetzt, da ich im Unglück sitze, hilf mir, Jesus Christus,
    hilf mir, meine Pistole zu halten!
    Und jetzt, da die Köter überall sind, Mutter Sibirien,
    Mutter Sibirien, verschone mein Leben!

    Auch ich rannte und sang, während ich ständig den Schirm meiner Mütze, meiner Acht Dreiecke, zurechtrückte, die zu groß war und mir dauernd über die Augen rutschte.
    Am Tag danach verging mir die Lust zu singen dann aber gehörig, als

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