Bomann, Corinna - Clockwork Spiders
Prolog
London
1888
Der rauchgeschwängerte Himmel schien in dieser Nacht noch tiefer als sonst über London zu hängen. Nebel waberte durch die von geisterhaft anmutenden Bäumen gesäumten Wege der Totenstadt Highgate. Wie Zugänge zu anderen Welten wirkten die Grüfte, die sich am Wegrand erhoben. Bleiche Marmorengel starrten mit leeren Augen in die Finsternis.
Der Mann in dem staubigen Kutschermantel, dessen Gesicht von der Krempe eines schwarzen Zylinders verschattet wurde, würdigte sie keines Blickes. Seine Gedanken waren bereits bei seinem Laboratorium und seiner teuflisch guten Erfindung, mit der er diese Welt nach seinen Vorstellungen verändern würde.
Zittern werden sie, dachte er. Zittern vor ihrem neuen Herrscher.
Ein Eulenruf ließ ihn innehalten. Wie seltsam, dass er so deutlich zu vernehmen war vor dem Hintergrund der lärmenden Stadt, deren Zahnräder und Dampfmaschinen nie zum Stehen kamen. Misstrauisch blickte sich der Mann um, doch er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Leise knirschten die Kiesel unter seinen Stiefeln, als er weiterschritt, an Kreuzen und marmornen Engeln vorbei.
Dabei zog er eine Taschenuhr aus seiner Lederweste. Tempus fugit war in den silbernen Deckel eingraviert. Liebevoll strich er über die geschwungenen Lettern, dann ließ er ihn aufschnappen. Zahlen und Zeiger glänzten im Mondschein über dem Uhrwerk. Tempus fugit – die Zeit verrinnt.
Ein guter Wahlspruch für sein Projekt, denn es gab so einige Personen, deren Zeit schon bald abgelaufen war.
Zwei Minuten nach Mitternacht. Er wollte nicht unnötig Zeit verlieren, denn sie war ein wichtiger Faktor in seinem Plan. So viele Männer waren gescheitert, weil sie die Zeit außer Acht gelassen hatten. Das würde ihm nicht passieren.
Noch ein Stück ging er geradeaus, dann bog er links ab. Unter einem weiteren Engel vorbei, der in seinen Armen eine sterbende Frau hielt, schritt er einen buchsbaumbewehrten Gang entlang.
Dann tauchte es vor ihm auf.
Wie jede Stadt hatte auch die Totenstadt Highgate ihre Paläste. Das elegante Gebäude, dessen Eingang von vier schlanken Säulen getragen wurde, war einer davon. Das Mausoleum, das an anderer Stelle wie eine kleine Villa gewirkt hätte, gehörte einer ehemals angesehenen Familie, die vor nicht allzu langer Zeit bei der Königin in Ungnade gefallen war. Der passende Ort für sein Vorhaben.
Der Schlüssel, den er unter seinem Hemd hervorzog, glänzte silbern im Mondschein, während er die Umzäunung passierte.
Nur noch ein paar Schritte.
Bevor er das schwere Gitter aufschließen konnte, vernahm er hinter sich erneut ein Geräusch. Keinen Eulenruf diesmal, sondern ein Rascheln. Langsam drehte er sich um, während seine Hand unter seinem Gehrock nach dem kalten Stahl des Dampfrevolvers tastete. Die silbernen Griffschalen schmiegten sich glatt an seine Handfläche. Er brauchte nur das Ventil zu entriegeln und die Waffe in Anschlag zu bringen. Wer immer vorhatte, ihn von seinem großen Ziel abzuhalten, dessen Lebenslicht würde er in Sekundenschnelle auslöschen.
Doch nur ein Fuchs huschte zwischen zwei kleineren Grüften hindurch. Wahrscheinlich erhoffte er sich ein paar Knochen aus einem der ärmlichen Gräber am Rand, von denen, wie man hörte, schon wieder welche eingestürzt sein sollten.
Aufatmend ließ er die Waffe wieder los und zog seinen Mantel zurecht. Dann schloss er die Tür auf. Die Angeln gaben ein Schnarren von sich, das in dem runden Raum widerhallte.
Wer das Mausoleum betrat, konnte zunächst glauben, es sei schon lange nicht benutzt worden. Außer einem großen steinernen Engel und glatten Wänden mit den Namen der Verblichenen gab es hier auf den ersten Blick nichts. Doch das war nur Schein. Ein Schatz ruhte unter den blank polierten Marmorplatten.
Lächelnd betrachtete der Mann den Engel, bevor er den Auslöser drückte, den nur wenige kannten. Geduldig wartete er, während sich vor ihm eine Bodenluke öffnete und den Blick auf eine stählerne Wendeltreppe freigab. Erst nachdem sich die Luke vollständig zurückgezogen hatte und die Treppe eingerastet war, stieg er hinab in das Reich der Toten. Natürlich gab es auch noch einen anderen Weg hier hinunter, wie hätten die Sargträger seine Ahnen einst dort hinunterschaffen sollen, wo doch technische Segnungen wie Dampfkräne und motorbetriebene Seilwinden damals noch’ nicht erfunden waren?
Doch jener zweite Eingang war seit einiger Zeit durch eine breite Stahltür verschlossen, deren
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