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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hören, den Monolog eines Verrückten. Die Armee würde mir alles geben, was ich schon hatte: Wie sollte ich ihm bloß erklären, dass ich keine Beschäftigung auf meinem Niveau brauchte und auch keine Freunde, kein Gehalt, keine Wohnung ...
    Ich kam mir vor wie einer, der im falschen Zug sitzt und schlagartig merkt, dass er nicht mehr zurückkann.
    Ich holte tief Luft und antwortete:
    »Ehrlich gesagt, ich will wieder nach Hause, Herr Oberst!«
    Schlagartig veränderte er sich. Sein Gesicht lief purpurrot an, als würde er von einem Unsichtbaren gewürgt. Er ballte die Hände zur Faust, und seine Augen verdüsterten sich wie der Himmel vor einem Unwetter.
    Er nahm meine Personalakte und warf sie mir ins Gesicht. Ich schaffte es gerade noch, die Hände zu heben. Die Akte prallte dagegen und öffnete sich, so dass die Blätter durch den ganzen Raum flogen, auf den Tisch, die Fensterbank und den Fußboden.
    Ich stand da wie eine Statue und tat keinen Mucks. Er schaute mich hasserfüllt an. Dann brüllte er los, mit einer schrecklichen Stimme, seiner wahren Stimme, wie mir vorkam:
    »Mistkerl! Du willst im Dreck verrecken? Das kannst du haben! Du kommst dorthin, wo du dir richtig in die Hosen machst, und zwar so schnell, dass du keine Zeit hast, sie runterzulassen. Und jedes Mal wirst du dabei an mich denken, du Undankbarer! Du willst nach Hause? Ab heute ist die Brigade der Saboteure dein Zuhause! Da werden sie dir beibringen, wie das Leben wirklich ist!«
    Während er mich anbrüllte, stand ich reglos da, starr wie eine Salzsäule, eine große Leere breitete sich in mir aus.
    Da waren ja die Schläge der Köter noch besser, da wusste ich wenigstens, was mir bevorstand, aber hier, in dieser Situation, stand ich wie der Ochs vorm Berg: Ich hatte eine Heidenangst, denn mit dem Militär kannte ich mich nicht aus, ich wusste weder, warum ich mich bescheißen sollte, noch, wer diese Saboteure waren ...
    »Raus hier, sofort raus!«, brüllte er und wies mir die Tür.
    Ohne zu grüßen, drehte ich mich auf dem Absatz um und verließ sein Büro. Draußen erwartete mich ein Soldat und salutierte.
    »Unteroffizier Glasunow! Folgen Sie mir, Kamerad!«, sagte er mit einer Stimme, die knatterte wie eine Kalaschnikow, wenn man das Magazin einlegt.
    Ein Hund mit Flöhen ist dein Kamerad, dachte ich bei mir, fragte aber unterwürfig:
    »Entschuldigen Sie, Herr Unteroffizier, darf ich mal auf Toilette?«
    Erstaunt sah er mich an, sagte aber nicht nein.
    »Meinetwegen, den Gang runter und dann rechts!«
    Ich ging los, er immer hinter mir her, und als ich in die Toilette ging, wartete er vor der Tür.
    Ich kletterte zum Fenster hinauf und sprang, da es nicht vergittert war, ohne Probleme ins Freie. Draußen, in dem Garten hinter dem Büro, war kein Mensch.
    »Das ist vielleicht ein Irrenhaus hier, nichts wie nach Hause!«
    Mit diesem Gedanken machte ich mich auf den Weg zum Ausgang. Dort hielt mich der Wachposten an, ein junger Soldat, vielleicht so alt wie ich, sehr dünn und mit einem schielenden Auge.
    »Papiere!«
    »Ich hab keine dabei, ich hab nur einen Freund besucht.«
    Der Soldat musterte mich misstrauisch.
    »Dann zeig deine Ausgangserlaubnis!«
    Bei diesen Worten verlor ich den Mut, das Herz rutschte mir in die Hose. Ich beschloss, den Blödmann zu spielen:
    »Was für eine Erlaubnis denn, was redest du da, mach das Tor auf, ich muss weg.« Ich ging an ihm vorbei aufs Tor zu, aber er zielte mit dem Maschinengewehr auf mich und brüllte:
    »Stehenbleiben oder ich schieße!«
    »Aus dem Weg!«, erwiderte ich, packte das Gewehr am Lauf und entriss es ihm.
    Der Soldat versuchte mir mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, aber ich verteidigte mich mit dem Gewehrkolben. Plötzlich bekam ich von hinten einen heftigen Schlag auf den Kopf, ich spürte, wie mir die Knie weich und der Mund trocken wurden. Ich atmete noch zweimal tief ein, und beim dritten Atemzug verlor ich das Bewusstsein.

    Als ich wenige Minuten später wieder aufwachte, lag ich auf der Erde, von Soldaten umringt. Darunter auch der Unteroffizier, der mich eigentlich begleiten sollte, nun aber besorgt umherschlich und allen verschwörerisch zuraunte:
    »Nichts passiert, alles in Ordnung; ich verlass mich auf euch, keiner hat was gesehen, ich kümmere mich schon um ihn.«
    Natürlich hatte er Angst, für seinen Leichtsinn bestraft zu werden.
    Er kam zu mir und gab mir einen Tritt in die Rippen.
    »Wehe, du machst das nochmal, Bastard, dann bringe ich dich eigenhändig

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