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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Hotel an. Durch das laute Treiben im Bahnhof hörte ich schlecht, Leute gingen an mir vorbei, aus den Lautsprechern der Bahnsteige schallten Durchsagen, ich schloß die Augen, um mich besser konzentrieren und Maries Stimme vernehmen zu können, wenn sie abhob, doch die schwachen Klingelzeichen in der Ferne, sie schallten eins nach dem anderen vergebens in dem Hörer, Marie war nicht im Hotel. Ich legte nachdenklich auf, stieg die Stufen hinunter und trat aus dem Bahnhof. Ich lief aufs Geratewohl durch die Straßen von Tokio, bis ich schließlich ein Taxi heranwinkte. Es hielt wenige Meter entfernt am Bordstein, ich sah, wie sich die Tür automatisch für mich öffnete. Ich beschleunigte meine Schritte und stieg in den Wagen, nahm auf dem Hintersitz Platz. Shinagawa, sagte ich, Contemporary Art Space von Shinagawa.
    Das Taxi hatte mich auf dem Parkplatz des Hotels unweit des Museums abgesetzt, weiter konnte man nicht fahren. Es war eine klare Nacht, am Himmel stand eine dünne Mondsichel, und ich folgte der Allee, die zum Teich führte, in Richtung des Haupteingangs des Museums. Am Eingangsportal klingelte ich. Alles lag im Dunklen, weder war auf der Allee Licht noch am Portal ein erleuchtetes Schild, aus der Dunkelheit stachen lediglich die beiden roten Punkte der Überwachungskameras hervor, deren schattenhafte Umrisse auf den Gelenkarmen zu sehen waren. Ich hörte ein Knistern in der Sprechanlage, dann eine etwas entstellte japanische Stimme, die eine Frage zu stellen schien. Ich antwortete nichts, trat nur etwas aus dem Halbschatten hervor, um mein Gesicht gut sichtbar in den Bereich einer der Kameras zu halten. Nach einigen Minuten ging ganz langsam das Portal auf, und ein junger Mann erschien, die Hand am Türgriff. Ich ließ ihm keine Zeit, Fragen zu stellen, zu zögern oder irgendwelche Ausflüchte zu machen, ich überwand die Tür, erzwang mir Einlaß und trat in den Innenbereich des Museums, ich hatte eindrucksvolle breite Schultern in meinem schwarzgrauen Mantel, und es sah höchst energisch und entschieden aus, wie ich da schnellen Schritts über den Rasen zum Museum stapfte, ich hörte, wie der junge Mann überstürzt das Tor wieder zumachte und mir auf dem Weg folgte, mir dabei erklärend, daß das Museum geschlossen sei ( it is closed, it is closed , wiederholte er mit verstörter Stimme).
    Ich ging geradewegs in den Kontrollraum, wo ich Marie vor einigen Tagen zum letzten Mal gesehen hatte. Die Bildschirme waren jetzt einheitlich schwarz, mit derselben hypnotischen Wirkung zitternder Monochrome, die nach und nach und je länger man sie betrachtete Einzelheiten, Formen und Konturen in den Ausstellungsräumen des Museums erkennen ließen. Wo beim letzten Mal nur das Leere der weißen Wände und der menschenleeren Ausstellungssäle zu sehen war, zeichneten sich jetzt die Umrisse von Maries Ausstellung ab, man sah Photos an den Wänden, Umrisse von Werken in den Räumen. Ich stand vor den Bildschirmen und versuchte die ausgestellten Stücke auszumachen und zu erkennen, als plötzlich mein Blick von einer Form gefesselt wurde, die sich auf einem der Bildschirme der oberen Reihe bewegte, einer Form, die über den getrübten und verschneiten Bereich des Monitors lief und sich schnellen Schritts auf mich zu bewegte. Und im Nu hatte sich die Form aus ihrer elektronischen Virtualität geschält und erschien auch schon real in Fleisch und Blut an der Türschwelle des Kontrollraums, es war der junge Mann, der mir das Museumsportal geöffnet hatte. Er schaute mich einen Augenblick aus der Entfernung reglos an, mit einer zugleich eingeschüchterten, bösen und argwöhnischen Miene, und ich spürte, daß etwas passieren würde, ich spürte, daß seine Ruhe nur gespielt war, daß er in den Raum treten, mich packen und mich zwingen würde, die Örtlichkeiten zu verlassen, und in dem Moment, als ich sah, wie er sich bewegte, als ich ihn den ersten Schritt tun sah, zog ich auch schon die kleine Flasche mit Salzsäure aus der Manteltasche und schwenkte sie vor ihm hin und her, um ihn auf Distanz zu halten. Ich war innerlich ruhig, fixierte ihn mit einem harten Blick. Er blieb stehen, schien nicht recht zu wissen, was ich mit ihm vorhatte und was ich in meiner Hand hielt. Mit zitternden Fingern machte ich den Verschluß der Flasche auf, und verursacht durch die Attacke der gefährlichen Dämpfe, die aus der Flasche drangen, begannen sofort meine Augen zu brennen und meine Schleimhäute zu kratzen. Ich hielt die Flasche in

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