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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Korsett befreit, in meine Hände fielen und sich zart und weich zwischen meinen Fingern hin und her bewegten. Nach und nach robbte ich mich hoch zu ihrem Gesicht, meine Handflächen glitten über ihre nackten Brüste und Schultern. Instinktiv hatte sich mein Mund von ihrem Mund und der Verheißung von Küssen magnetisch angezogen gefühlt, doch genau in dem Augenblick, da ich meine Lippen auf die ihren drücken wollte, sah ich, daß ihr Mund geschlossen war, verschlossen und vernagelt in stummer Verzweiflung, ihre Lippen zusammengekniffen und mitnichten auf meinen Mund wartend, verkrampft in der Suche nach rein sexueller Lust. Und als ich innehielt und den Kopf über ihrem Gesicht hob, dessen Ausdruck mir die verbundenen Augen verbargen, da sah ich, wie ganz langsam unter dem schmalen schwarzen Rand der lilaseidenen Schlafbrille der Japan Airlines eine fast regungslose, kaum ausgebildete Träne hervortrat, die traurig auf der Stelle zitterte, unentschlossen, unfähig weiter die Wange hinabzugleiten, eine Träne, die, da sie an der Stoffgrenze erzittern mußte, schließlich auf der Haut ihrer Wange in einer Stille zerplatzte, die in meinem Geist wie eine Explosion widerhallte.
    Ich hätte diese Träne von ihrer Wange schlürfen, mich auf ihr Gesicht fallen lassen und sie mit der Zunge auflecken können. Ich hätte mich auf sie stürzen und ihre Wangen, ihr Gesicht und ihre Schläfen küssen, ihr die Stoffbrille wegreißen und ihr in die Augen sehen können, und sei es für einen winzigen Moment, einen Blick wechseln und sich verstehen, mit ihr eins werden in dieser Verzweiflung, die durch den geschärften Zustand unserer Sinne noch verstärkt wurde, ich hätte ihre Lippen mit meiner Zunge gewaltsam auseinanderpressen können, um ihr zu beweisen, welch ungebrochener Schwung mich zu ihr hintrug, und wir hätten uns sicher, schweißgebadet, nicht mehr Herr unserer Sinne, in einer feuchten salzigen cremigen Umarmung aus Küssen, Schweiß, Speichel und Tränen verloren. Aber ich habe nichts getan, ich habe sie nicht geküßt, habe sie diese Nacht nicht ein einziges Mal geküßt, ich habe noch nie meine Gefühle ausdrücken können. Ich habe zugesehen, wie die Träne sich auf ihrer Wange auflöste, und habe die Augen geschlossen – im Gedanken, daß ich sie vielleicht, tatsächlich, nicht mehr liebte.
    Es war spät, vielleicht drei Uhr morgens, und wir liebten uns, liebten uns langsam in der Dunkelheit des Zimmers, das noch immer lange Streifen aus rotem Licht und dunklen Schatten durchmaßen, an den Wänden flüchtige Spuren ihres Vorbeigleitens hinterlassend. Maries Gesicht, ins Zwielicht geneigt, die Haare aufgelöst im Aufruhr der durcheinandergeratenen Laken, ihrer Morgenmäntel und wirr um uns herumliegenden Kleider, blieb wie am Rande unserer Umarmung, verlassen an der Ecke eines Kissens, die Lippen zusammengekniffen und sich nicht lösend von jenem schrecklichen Ausdruck schwerer und stummer Verzweiflung, den ich an ihr gekannt hatte. Nackt in meinen Armen, warm und zerbrechlich im Bett dieses Hotelzimmers, an dessen Decke flüchtige Fäden roten Neonlichts vorüberzogen, hörte ich sie im Dunkeln stöhnen, wenn ich mich in ihr bewegte, aber ich spürte kaum, daß sich ihre Hände gegen meinen Körper drückten, ihre Arme sich um meine Schultern schlangen. Nein, es war, als vermiede sie sorgsam jeden überflüssigen Kontakt mit meiner Haut, jede unnütze Berührung, jede andere denn sexuelle Beziehung zwischen unseren Körpern. Denn lediglich ihr Geschlecht schien an unserer Umarmung teilzunehmen, ihr warmes Geschlecht, in das ich eingedrungen war und das auf fast autonome Weise sich regte, hitzig und bissig, gierig, während sie die Beine zusammenpreßte, um mein Glied in den Schraubstock ihrer Oberschenkel zu zwängen, und verzweifelt an meinem Schambein rieb auf der Suche nach einem Genuß, den auf immer aggressivere Weise sich zu holen sie spürbar bereit war. Ich hatte das Gefühl, daß sie sich meines Körpers bediente, um an mir, gegen mich zu masturbieren, daß sie ihre Verzweiflung an meinem Körper rieb, um sich in der Suche nach einem gefährlichen, glühenden und einsamen Genuß zu verlieren, schmerzhaft wie eine lang schwelende Brandwunde und tragisch wie das Feuer des Bruchs, den wir im Begriff waren zu vollziehen, und genau dasselbe Gefühl dürfte sie auch in bezug auf mich empfunden haben, denn seitdem unsere Umklammerung zu jenem Kampf zweier paralleler Gelüste geworden war, nicht mehr

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