Sich lieben
auf, meine fixen intensiven Augen, die mich anstarrten. Ich schaute mich im Spiegel an und dachte an das Selbstporträt von Robert Mapplethorpe, wo aus der finsteren Schwärze der thanateischen Abgründe der Tiefe des Photos im Vordergrund nur ein Stock aus kostbarem Holz aufscheint, mit einem winzigen ziselierten Elfenbeinknauf in Form eines Totenkopfs, dem, noch immer im Vordergrund, mit derselben perfekten Tiefenschärfe wie ein Echo das Gesicht des Photographen antwortet, bedeckt bereits mit dem Schleier des Todes. Und doch lag in seinem Blick ein Ausdruck von Ruhe und gelassenem Trotz. In der Dunkelheit des Badezimmers stand ich nackt mir selbst gegenüber, in der Hand ein Fläschchen mit Salzsäure.
Und nach und nach hatte sich die Gefahr konkretisiert.
Hinter mir war die Tür des Badezimmers offengeblieben, und im Schatten waren die Schiebetüren des Wandschranks und der ins Zimmer führende Teil des Flurs zu erahnen. Marie mußte eingeschlafen sein, mit dem nackten Körper quer über dem Bett, die Augen umgürtet mit der tränenfeuchten Augenbinde im fahlen bläulichen Licht des immer noch angeschalteten Bildschirms im Zimmer. Ich konnte die Strecke, die mich vom Zimmer trennte, sehr gut in Bilder umsetzen, die wenigen Schritte, die ich längs des Wandschranks im Flur gehen mußte, dann die Ecke und der Ausblick aufs Zimmer, Holzkisten kreuz und quer auf dem Boden, die offenen Koffer und das erstarrte Gefolge der trübselig-schlaffen schwarzen Kollektionskleider, die im Dämmerlicht menschliche Formen angenommen hatten und nun, ineinanderverknäult, gemartert, auf Behelfsbügeln der Reiseständer hingen, dazu, in der Ferne, perspektivisch, das große Glasfenster und dahinter Tokio. Im Zimmer war kein Laut zu hören, weder Atmen noch Schluchzen, nicht das leiseste Knistern. Ich hörte keinen Ton, und ich hatte Angst . . . So viele Stunden hatte keiner von uns beiden geschlafen, so viele Stunden, daß unsere raum-zeitlichen Koordinaten sich aus Mangel an Schlaf, Verwirrung der Gefühle und Ausrasten der Sinne verflüchtigt hatten. Es mußte jetzt nach drei Uhr morgens in Tokio sein, und wir waren am selben Morgen angekommen, gegen acht Uhr japanischer Zeit, nach einem kurzen morgendlichen Aufenthalt in Paris vor dem Abflug und einer langen Nacht im Flugzeug, wo wir allenfalls ein oder zwei Stunden gedöst hatten, das machte alles in allem fast achtundvierzig Stunden, die wir nicht geschlafen hatten, oder nur sechsunddreißig Stunden, was soll’s, ich stürzte mich in komplizierte und müßige Berechnungen, um meine Gedanken auf irgend etwas Objektives zu lenken und mich von der Woge an Gewalt, die ich in mir hochsteigen spürte, nicht übermannen zu lassen. Ich hätte gern Marie umarmt, um sie zu trösten, sie sanft in meine Arme genommen und ihr, mit der zwingenden Kraft der Geständnisse, die man nicht macht, oder lediglich in Gedanken, in seinem Innersten, gesagt, daß ich sie liebte, daß ich sie immer geliebt hätte, aber daß nun geschlafen werden müsse, daß wir schlafen müßten, daß allein der Schlaf uns jetzt beruhigen könne. Es ist so spät, Marie, schlaf, es ist so spät, sagte ich zu ihr und nahm sanft ihre Hand. Da fuhr sie jäh zusammen, als würde sie aus dem Schlaf auffahren. Hau ab, wiederholte sie leise und befreite ihre Hand, wobei sie mich mit dem Arm zurückstieß, hau ab, laß mich schlafen, wiederholte sie. Und urplötzlich hatte ich nur noch 3en vor meinen Augen, drei 3en, die in meinem Blickfeld auftauchten, 3.33 a.m. sah ich unvermittelt vor mir auf dem Display des Radioweckers blinken, drei 3en in roten Ziffern aus fein gepunkteten flüssigen Kristallen, die mich aus dem Halbdunkel des Nachttischs fixierten. Wo war ich denn eigentlich? Und was war dieses trübe blaßlila Halbdunkel, das die langen Strahlen dieses Unglücksscheinwerfers mit schwarzen und roten Reflexen durchmaßen? War ich ins Zimmer zurückgekommen? Ich saß neben ihr, die kleine Flasche mit Salzsäure in der Hand, offen. Und das war’s, was roch, der beißende Geruch der Säure.
Ich schloß die Zimmertür hinter mir, fand mich allein auf dem verlassenen Flur der 16. Etage. Auf dem Stockwerk war kein Laut zu hören, lediglich das Brummen der Klimaanlage und, vielleicht, weiter weg, das Gebläse eines Heizkessels hinter einer Tür für das Dienstpersonal. Bevor ich das Zimmer verließ, hatte ich eilig eine Hose und ein T-Shirt übergestreift, keine Strümpfe, lediglich ein Paar Hotelpantoffeln aus Nylonkrepp.
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