Sie und Er
unrealisierten Träumen, die im Lauf der Zeit verblasst sind wie der Lack, mit dem sie geschrieben wurden.
Sie springt barfuß auf das Teakholzdeck
Sie springt barfuß auf das Teakholzdeck, ohne die starke Hand zu ergreifen, die Brian ihr entgegenstreckt. Doch sie schwankt und muss sich am Geländer festklammern, um nicht auf dem regennassen Deck auszurutschen.
»Vorsicht, Clarie-Pony!«, sagt Paula von der Mole her. Sie reicht ihrem Mann den kleinen Rucksack, die Handtasche, den Koffer.
Brian stellt den Koffer ins Heck, bringt Clare den Rucksack und die Handtasche, geht vor ihr her unter Deck. Aus der Piek am Bug holt er zwei gelbe Olanzüge, schlüpft: rasch in Hose und Jacke und die Stiefel. Vor dem Hinausgehen füllt er eine Tasse mit Apfelsaft und hält sie Clare hin: »Bitte sehr, Signorina Moletto.« Sein Lächeln ist verkrampft, wegen des Wetters draußen und wegen der Dinge, die Paula ihm über die Beziehungskatastrophe ihrer jüngeren Schwester erzählt haben muss.
»Danke«, sagt sie und hört ihre eigene Stimme nicht; sie trinkt den Apfelsaft in einem einzigen großen Schluck.
»Keine Ursache«, sagt Brian. Rasch steigt er die kleine Treppe hinauf, um Paula ihr Ölzeug und die Stiefel zu bringen.
Sie bleibt stehen, die leere Tasse in der Hand; sie ist so müde, dass ihr schwindelt und ihre Beine zittern. Sie kann sich ihre zukünftigen Tage nicht ausmalen, abgesehen von schlafen, schlafen und noch mal schlafen in Paulas und Brians Gästezimmerchen, vielleicht allein um die kleine Insel wandern, sich von Telefonen und Computern fernhalten, nichts denken, die Verbindungskanäle zwischen Herz und Gedanken kappen. Jetzt trommelt der Regen immer rhythmischer auf das Deckshaus, tack tatack tatatacktack tatatacktacktack.
»Clare, der Koffer.« Durch die Luke reicht Brian ihr den orangefarbenen Koffer und lässt ihn erst los, als er sicher ist, dass sie ihn festhält.
Nass, wie er ist, stellt sie ihn ins Unterdeck und schiebt ihn mit dem Fuß unter den Kartentisch. Sie hat überhaupt keine Lust, die paar Sachen wiederzusehen, die er enthält, und von irgendeinem Stofffetzen dahin zurückgezerrt zu werden, wo sie war, bevor sie weggelaufen ist; sie will nur ihre Ruhe, alles vergessen, was sie je gedacht oder gefühlt hat.
Es schüttet immer ärger, das ganze Boot dröhnt. Sie steigt die Stufen hinauf und schaut hinaus: Dicht und schnell trommeln die Tropfen aufs Deck und auf die Boote rundum, sie bilden einen Vorhang vor der Silhouette der Stadt. Das missfällt ihr keineswegs, es ist wie ein guter Beitrag zur allgemeinen Auslöschung.
Paula, die in ihrem Ölzeug auf der Mole die Leinen losmacht, ruft ihr zu: »Geh wieder runter oder zieh dir was über, Clarie!« Sie springt an Bord, wickelt das Tau um einen Poller.
Clare rührt sich nicht, blickt verzaubert auf den Regen, der das Wasser im Hafenbecken aufspritzen lässt und überall konzentrische kleine Wellen auslöst. Ein Blitz erhellt das fahle Licht, zwei Sekunden später zerreißt ein Donner die Luft. Der Regen wird noch dichter, der Wind pfeift in den Wanten, und die Masten im Hafen schwanken.
Brian wirft den kleinen Dieselmotor an, dreht eifrig am Steuer, behindert durch die Taue und Ketten und Bojen der anderen Boote. Paula holt die Fender ein, doch auf einmal hält sie mit Blick zur Mole inne. Im Heck schaut Brian in die gleiche Richtung, auch er erstarrt. Auf der Mole fuchtelt ein Mann mit den Armen und hopst auf der Stelle und schreit etwas, das vom Rauschen des Regens und des Windes übertönt wird. Brian schüttelt den Kopf, schaut Paula fragend an. Gleich darauf springt der Mann mitsamt seinen Kleidern von der Mole: Er durchpflügt das Wasser wie beim Start eines Wettschwimmens, schwimmt mit verzweifelter Energie auf sie zu. In wenigen Zügen ist er schon am Boot, versucht, sich seitlich am Heck festzuhalten.
Brian schaltet in den Leerlauf, lässt das Steuer los, beugt sich mit dem Bootshaken in der Hand vor und richtet ihn auf den Mann: »He!«, schreit er. »Was zum Teufel willst du da?!«
Unbeirrt versucht der Mann im Wasser, sich festzuklammern, findet aber an der glitschigen Bootswand keinen Halt: Er geht unter, taucht wieder auf, spuckt Wasser, schnappt nach Luft, schreit noch etwas.
»Brian, der ertrinkt!«, ruft Paula, mit einem Fender in der Hand aufs Wasser hinausgebeugt.
»Der ist verrückt!«, schreit Brian. »Er hat sie nicht mehr alle! He! Schwimm zurück ans Ufer!«
»Deagooowaaaa!«, schreit der Mann im
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