Sie und Er
Das Lustigste am Fliegen ohne Flügel ist, wie unglaublich leicht es geht
Das Lustigste am Fliegen ohne Flügel ist, wie unglaublich leicht es geht: Es genügt, Arme und Beine zu bewegen wie beim Schwimmen, bloß tut man es in der Luft. Es ist einfach, verlangt weder körperliche noch geistige Anstrengung, nur eine gewisse Zielstrebigkeit. Man muss bloß überzeugt sein, dass es klappt, dann klappt es.
Jetzt zum Beispiel fliegt sie flach über die dichtbewachsenen Hügel, über die tiefgrünen Reihen von Kaffeesträuchern, über die Bananenstauden mit ihren beinahe gelben Blättern, über die schmale Straße, die sich kurvig jeder Steigung und Senkung anschmiegt. Große Höhe interessiert sie nicht: Der Genuss liegt darin, im Tiefflug über die Landschaft zu gleiten, um sie in allen Einzelheiten zu genießen, die leuchtenden Farben aufzunehmen, die starken Gerüche einzuatmen, die Veränderungen der Feuchtigkeit an den Stellen wahrzunehmen, an denen die Hügelkuppen steil zum üppigen sonnenlichtgesprenkelten Dschungel hin abfallen. In diesem Zustand vollkommener Leichtigkeit fragt sie sich, wie sie sich je damit begnügen konnte zu gehen, von der Schwerkraft niedergedrückt, Meter für Meter die Reibung ihres Körpergewichts mit der harten Erdoberfläche aushandelnd. Sie beschließt, nie mehr den Boden zu berühren - von jetzt an wird sie sich nur noch fliegend fortbewegen. Falls sie dann einem Mann begegnet, der wirklich mit ihr auf der gleichen Wellenlänge ist, wird sie ihm das einfache Geheimnis des In-der-Luft-Lebens verraten. Es wäre schon schön, diese Empfindungen mit jemandem teilen zu können, jemanden zu haben, mit dem man die Möglichkeiten erforschen könnte, zu trudeln und sich zu überschlagen, sich aufwärts und abwärts zu verfolgen, indem man durch die Wolken auf den Himmel zusteuert und gleich darauf zwischen den Baumkronen an den Stämmen entlang hinuntersaust und erst knapp über den Sträuchern und Grashalmen abbremst, bevor man wieder aufsteigt. Es wäre schön, zu zweit den Fluss entlangzufliegen, der jetzt am Ende eines Tals auftaucht und leuchtend blau zwischen den Ufern dahineilt. Sie lässt sich sinken, um das kühle Wasser zu streifen, und vernimmt dabei ein stotterndes Piepsen, das ihr durch Mark und Bein geht und immer stärker wird.
Dann ist sie auf einmal nicht mehr in der Luft, die ganze lustige Leichtigkeit ist dahin, und die Schwerkraft, von der sie sich für immer befreit zu haben glaubte, übt wieder ihren ganzen Druck aus. Das Piepsen geht weiter, hört aber auf, als sie die Hand ausstreckt und auf den Knopf des Weckers auf dem Nachttisch zu ihrer Rechten drückt. Da ist kein kühler Fluss mehr, nur die zerwühlten Laken ihres schmalen Bettes in ihrem kleinen Zimmer in dem hässlichen kleinen Appartement im ersten Stock am südwestlichen Stadtrand von Mailand.
Mit einem Ruck springt sie auf, um die Zwischenphasen des Erwachens abzukürzen und die Sehnsucht nach dem Traum zurückzudrängen. Geduckt öffnet sie die mit schwarzem, klebrigem Feinstaub verkrusteten Fensterläden, damit man sie nicht nackt sehen kann von der total monochromen Straße aus: Asphalt, Fassaden, Himmel, alles ist grau, selbst die Autos - egal, welche Farbe sie hatten, als sie aus der Fabrik kamen.
Doch sosehr sie sich auch bemüht, es gelingt ihr nicht, das heftige Bedauern zu unterdrücken, das sie jetzt empfindet, das tiefe Verlustgefühl, das ihr Magen, Herz und Lunge zusammenzieht, während sie in ein Höschen, ein T-Shirt und ihre Jeans schlüpft und über den engen Flur ins Bad geht. Es scheint ihr mehr als eine einfache Enttäuschung beim Erwachen zu sein: Es kommt ihr vor wie eine Botschaft von sich selbst an sich selbst, über die sie lange nachdenken müsste, wenn sie nur genug Raum im Kopf dafür hätte. Tatsache ist, dass sie hier mit beiden Füßen auf dem Boden steht, ohne die geringste Chance, sich von den Granitfliesen zu lösen, um auch nur bis zur Decke zu schweben. Sie atmet tief durch und öffnet den Wasserhahn, schüttet sich kaltes Wasser ins Gesicht, fast ohne sich im Spiegel anzusehen, der ihr ihren verstrubbelten Lockenkopf vor graublauen Kacheln und einer Bordüre mit weißen Fischlein zeigt.
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Er betritt gerade ein Haus, das er soeben gemietet hat, in Südfrankreich, Departement Var. Der Besitzer wirkt jugendlich, trotz seiner grauen Haare und Augenbrauen, und zeigt ihm einen Garten, der von einer hohen
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