Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Hamburg,
Mai 1922
Am Kai, wo die großen
Überseedampfer anlegten, drängte sich seit dem Mittag eine Menschenmenge. Jetzt
war es halb zwei, die Sonne brannte heiß, und diejenigen, die ohne Hut gekommen
waren, liefen Gefahr, sich einen Sonnenbrand zu holen. Die Abfahrt des
hundertsechzig Meter langen Doppelschrauben-Turbinendampfers Britannia mit knapp achthundertfünfzig
Passagieren zog sich länger hin als von den Verantwortlichen geplant. Schuld
daran war offenbar eine verspätet eingetroffene Ladung. Hektisch und unter
lauten Zurufen wurden schließlich zwei hohe Containerkisten verladen, und die
Matrosen der Britannia begannen, die
Landungsbrücken einzuziehen. Am Kai winkten die Menschen. Sie riefen, weinten,
winkten hektisch mit ihren Taschentüchern und Hüten, als müssten sie all die
verpassten Gelegenheiten, die Missverständnisse, das Nicht-Gesagte der letzten
Jahre wieder gutmachen.
Das Schiffshorn der Britannia dröhnte, die Turbinen
stampften ungeduldig, und aus den beiden roten Schornsteinen quoll rußiger
Qualm. Die metallenen Wände und Böden des Ozeanriesen zitterten. Mit
tausendfach geübten Griffen holten die Seeleute die Taue ein, und das Schiff
legte ab. Zwischen Kaimauer und Schiffswand verbreiterte sich der Streifen
blauen Wassers. Noch könnte man hinüberspringen, ein mutiger Schritt, dachte
Emma Schott, die von den winkenden Passagieren fest an die Schulter ihres
Mannes gedrückt wurde. Sie strich sich die blonden Strähnen aus der Stirn, die
der Wind aus ihrem Knoten unter dem breitkrempigen Strohhut gerupft hatte. Sie
trug ein dunkelblaues Kleid mit einem weißen Kragen, das sie sich aus
verschiedenen Uniformen zusammengeschneidert hatte. Allerdings nicht ohne
Talent, wie sie feststellte, wenn sie sich, eine große, sehr schlanke,
vielleicht sogar zu schlanke junge Frau, im Spiegel sah.
„Und du musst sofort
schreiben!“, schrie eine stämmige junge Frau mit einem Blumenhut herauf. Emma
nickte und winkte zu ihrer Freundin und ehemaligen Kollegin Vera hinunter in
die wogende Menschenmenge. Vera fuchtelte mit einem Taschentuch vor dem Gesicht
von Emmas Mutter hin und her, einer Frau in den Fünfzigern, die in ihrem
steifen grauen Kleid, das sie schon lange vor dem Krieg besessen hatte und nun
als ihr Bestes zu allen besonderen Anlässen trug, mit versteinertem Blick zu
Emma hinaufsah. Emma hätte sich gern von ihrer Mutter verabschiedet, doch kein
Laut kam aus ihrer zugeschnürten Kehle. Sie macht mir Vorwürfe, dachte sie.
„Paul soll auf dich aufpassen!“, schrie Vera vom Kai herüber, hüpfte hoch,
damit Emma sie auch nicht übersehen könnte. Emma krallte ihre linke Hand noch
fester in den Ärmel von Pauls abgetragenem Wollmantel und versuchte sorglos zu
lachen, aber sie spürte, wie das Lächeln nur eine bemühte Grimasse wurde.
Vielleicht würde sie Vera und ihre Mutter niemals wiedersehen. Die Sonne ließ
Pauls rotes, widerborstiges Haar unter dem grauen Hut aussehen, als ob es
brannte. Er winkte verhalten mit seiner hellen, von Sommersprossen übersäten
Hand. Auch er wird Abschiede hassen, dachte sie. Sie war durcheinander. Sie
hatte Angst vor dem, was vor ihr lag, zugleich konnte sie es kaum erwarten, ihr
neues Leben zu beginnen. Ihr neues Leben ... Sie seufzte. Ihr Vater wäre so
stolz auf sie gewesen.
Ellbogen bohrten sich in
Emmas Seite, stießen beim Winken an ihren Kopf. Rufe und Schreie gellten in
ihren Ohren. Das Schiffshorn dröhnte unaufhörlich, als müsse es ganz Hamburg
von der Abfahrt der Britannia berichten; der schwarze Qualm aus den Schornsteinen verdunkelte das Blau des
Himmels, während die Britannia unbeirrt
ihren Abstand zum Festland vergrößerte. Bald konnte Emma die Gesichter von Vera
und ihrer Mutter nicht mehr erkennen. Sie waren zu hellen Flecken in einer
grauen Menge geworden. Die Gebäude des Hafens lösten sich auf im Dunst des
Mittags, und das Stampfen der Turbinen, das Zischen und Schmatzen des Wassers
übertönte alle Rufe. Emma ließ ihre Hand auf die Reling sinken. Der Ring, den sie
seit vorgestern trug, schlug mit einem metallischen Klang auf. Noch hatte sie
sich nicht daran gewöhnt. „Vielleicht hätte ich sie doch nicht allein lassen
sollen.“
„Was sagst du?“, fragte
Paul und drehte sich zu ihr, sein Gesicht gerötet von der Sonne oder von der
Aufregung, die auch ihn erfasst hatte. „Meine Mutter hat jetzt niemanden mehr“,
sagte sie in sein linkes Ohr, da sein
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