Sie
die Dunkelheit des Flurs, und tatsächlich, da stand Annie, da war die Göttin, da stand sie im Schatten, ein weißer Schemen in Schwesterntracht …
Er kniff die Augen fest zu, dann machte er sie wieder auf. Schatten, ja. Annie, nein. Abgesehen von den Zeitungsausschnitten hatte er sie niemals in Schwesternkleidung gesehen. Nur Schatten. Schatten und
(so lebhafte)
Vorstellung.
Er kroch langsam auf den Flur und sah in Richtung des Gästezimmers. Die Tür war geschlossen und unverändert, und er kroch in Richtung Wohnzimmer.
Es war eine Höhle voller Schatten. Annie konnte sich hinter jedem verstecken; Annie konnte jeder davon sein. Und sie konnte die Axt haben.
Er kroch.
Dort war das Polstersofa, und Annie war dahinter. Dort stand die Küchentür offen, und Annie war hinter dieser . Hinter ihm knarrten die Dielen … natürlich! Annie war hinter ihm!
Er drehte sich um, sein Herz pochte, das Gehirn drückte gegen die Schläfen, und Annie stand tatsächlich mit erhobener Axt da, aber nur eine Sekunde lang. Sie löste sich in Schatten auf. Er kroch ins Wohnzimmer, da hörte er das Geräusch eines näher kommenden Motors. Scheinwerferlicht strahlte schwach durch das Fenster, wurde heller. Er hörte die Reifen im Schlamm rutschen und begriff, dass sie die Kette gesehen hatten, die sie vor die Einfahrt gehängt hatte.
Eine Autotür wurde aufgemacht und zugeschlagen.
»Scheiße! Sehen Sie sich das an!«
Er kroch schneller, richtete sich auf und sah eine Silhouette auf das Haus zukommen. Die Form des Hutes dieser Silhouette war unmissverständlich. Es war ein Cop.
Paul stützte sich auf den Nippestisch und warf die Figürchen um. Ein paar fielen zu Boden und zerschellten. Seine Hand schloss sich um eine der Figuren, und wenigstens das war wie in einem Buch; es hatte eine romanhafte Rundheit, wie sie Büchern genau aus dem Grund zu eigen ist, weil es dem echten Leben daran mangelte.
Es war der Pinguin, der auf dem Eisblock saß.
JETZT IST MEINE GESCHICHTE ERZÄHLT!, stand auf dem Block, und Paul dachte: Ja! Gott sei Dank!
Er stützte sich auf die linke Hand und schloss die rechte um den Pinguin. Blasen brachen auf, Eiter quoll heraus. Er zog den Arm zurück und warf den Pinguin durch das Wohnzimmerfenster, genauso, wie er vor nicht allzu langer Zeit einen Aschenbecher durch das Gästezimmerfenster geworfen hatte.
»Hier!«, schrie Paul Sheldon außer sich. »Hier, hier drinnen, bitte, ich bin hier drinnen!«
47
Dieser Ausgang hatte noch eine weitere romanhafte Rundheit an sich: Es waren dieselben Polizisten, die vor ein paar Tagen hier waren, um Annie wegen Kushner zu verhören, David und Goliath. Aber heute Abend hatte David nicht nur seinen Mantel aufgeknöpft, er hatte sogar die Waffe gezogen. Wie sich herausstellte, hieß David Wicks. Goliath war McKnight. Sie waren mit einem Durchsuchungsbefehl gekommen. Als sie schließlich ins Haus eindrangen, nachdem sie die verzweifelten Schreie aus dem Wohnzimmer gehört hatten, fanden sie einen Mann, der wie ein zum Leben erwachter Albtraum aussah.
»Als ich noch in der Highschool war, habe ich einmal ein Buch gelesen«, sagte Wicks am nächsten Morgen zu seiner Frau. » Der Graf von Monte Cristo , glaube ich, oder Der Gefangene von Zenda . Jedenfalls ging es in diesem Buch um jemanden, der vierzig Jahre in Einzelhaft verbracht hatte. Er hatte vierzig Jahre lang keinen Menschen gesehen. Genauso sah dieser Bursche aus.« Wicks schwieg einen Augenblick, er wollte besser zum Ausdruck bringen,
wie es gewesen war, die widerstreitenden Gefühle, die er empfunden hatte - Entsetzen und Mitleid und Kummer und Ekel -, am meisten jedoch Verwunderung darüber, dass ein Mann, der so aussah, noch am Leben sein konnte. Er fand keine Worte. »Als er uns sah, fing er an zu weinen«, sagte er und fügte schließlich hinzu: »Er nannte mich immerzu David. Ich weiß auch nicht, warum.«
»Vielleicht siehst du jemandem ähnlich, den er gekannt hat«, sagte sie.
»Vielleicht.«
48
Pauls Haut war grau, sein Körper spindeldürr. Er kauerte neben dem Beistelltisch, zitterte am ganzen Leib und blickte sie mit rollenden Augen an.
»Wer …«, begann McKnight.
»Göttin«, unterbrach ihn der ausgemergelte Mann auf dem Boden. Er leckte sich die Lippen. »Sie müssen sich vor ihr in Acht nehmen. Schlafzimmer. Dort hat sie mich gefangen gehalten. Privatschriftsteller. Schlafzimmer. Dort ist sie.«
»Anne Wilkes?« Wicks. »In diesem Schlafzimmer?« Er nickte in Richtung des
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