Sieben Siegel 05 - Schattenengel
hinüberzuwerfen – dafür hätte sie Schwung holen müssen, und eine solche Bewegung erschien ihr eindeutig zu gefährlich.
Noch ein Schritt, und sie würde nah genug sein, um ihm das Haupt mit ausgestrecktem Arm hinüberzureichen.
Doch auch diese Idee war wenig Erfolg versprechend. Die Gefahr, dabei die Balance zu verlieren, war zu groß.
Sie konnte spüren, dass hinter ihrem Rücken etwas geschah, und sie fürchtete zu wissen, was es war. Dennoch wagte sie nicht, sich umzuschauen. Sie musste all ihre Konzentration auf die letzten Schritte bis zur Felsplattform lenken.
Während Lisa sich langsam ihrem Ziel näherte, wichen Kyra, die beiden Jungen und der Professor vom vordersten Rand der Klippe zurück – bis ihnen jäh klar wurde, dass es kein Entkommen mehr gab vor dem, was sich vor ihren Augen zu Boden senkte.
Acht Gestalten in schwarzen, flatternden Mänteln schwebten aus der Höhe herab. Ihre Füße berührten gleichzeitig den Felsboden und kamen zum Stehen.
Alle acht hatten verblüffende Ähnlichkeit mit Azachiel – langes, dunkles Haar, hagere Züge –, nur ihr Anführer, der an der Spitze der Formation stand, unterschied sich durch ein Detail von den anderen: Eine breite weiße Strähne teilte sein schwarzes Haar in der Mitte. Um seine schmalen Lippen lag ein verschlagener, bösartiger Zug.
Raguel lächelte.
»Fürchtet euch nicht«, sagte er, doch sein Tonfall klang, als hätte er ihnen gerade vorgeschlagen, sie mit Haut und Haaren aufzufressen.
Im selben Augenblick setzte Lisa ihren Fuß auf das Plateau.
Schattenspiele
Kyra schaute instinktiv auf ihren Unterarm. Die Sieben Siegel blieben unsichtbar. Der himmlische Ursprung der Engel schien die Magie der Male irrezuführen – ob böse oder nicht, für sie blieben die Wesen in den langen Mänteln Geschöpfe Gottes. Es war das erste Mal, dass die Siegel sie im Stich ließen.
Lisa trat, das Haupt von Lachis fest in Händen, auf das Felsplateau. Aller Augen – auch die Raguels und seiner Krieger – waren auf sie und Azachiel gerichtet. Der Schatten der Kirche schien Lisas Haut und Kleidung alle Farben zu entziehen; sie wirkte jetzt fast genauso düster wie der Gefallene Engel an ihrer Seite.
Aber noch hatte sie ihm den Rucksack nicht übergeben.
Raguel glitt mit einer fließenden Bewegung, die keinerlei Ähnlichkeit mit der Plumpheit menschlicher Schritte hatte, an die Felskante.
»Komm zurück, Kind«, sagte er mit der Stimme eines listigen Versuchers. Der Wind wirbelte sein langes Haar durcheinander, nur die weiße Strähne blieb unverändert. »Gib uns das Haupt. Du und deine Freunde, ihr werdet es nicht bereuen.«
Azachiel kreuzte den Blick seines Erzfeindes.
»Oh, Raguel … das ist armselig. Wirklich erbärmlich.« Er legte einen Arm um Lisas Schulter und zog sie zwischen die Falten seines schwarzen Mantels.
Kyra lief es bei diesem Anblick kalt über den Rücken. Sie traute Azachiel nicht, aber noch viel weniger wollte sie ihr Schicksal in die Hände Raguels legen. Azachiel war undurchschaubar und voller Geheimnisse, aber Raguel war durch und durch verdorben.
»Warum gibt sie ihm das Haupt nicht endlich?«, flüsterte Nils an Kyras Seite.
Kyra wusste keine Antwort darauf. Sie bemerkte, dass Chris wie versteinert auf Lisa starrte – nicht auf Azachiel oder Raguel, nur auf Lisas Gesicht. Seine Augen quollen fast über vor Sorge.
Lisa wirkte verträumt, so als wäre sie nicht ganz sie selbst. Sie schmiegte sich in den Stoff von Azachiels Mantel, als gäbe es keinen sichereren Ort auf der Welt – es sah aus, als würden die Schatten um sie herum noch dunkler und tiefer.
Was geschieht hier?, durchfuhr es Kyra eisig, und ihre Sorge galt nicht nur Lisa, sondern ihnen allen.
Raguel streckte seine Hand aus und winkte auffordernd über den Abgrund. »Wir sind deine Freunde, mein Kind. Uns kannst du berühren, ohne den Schatten irgendeiner jämmerlichen Kirche. Azachiel ist schwach. Aber wir«, – er lächelte wieder –, »wir sind stärker und mächtiger als jede andere Kreatur dieser Welt.«
»Ihr seid Satanaels Sklaven«, gab Azachiel zurück. »Ihr habt keinen eigenen Willen. Nicht einmal die Kraft, mit der du protzt, gehört dir. Ohne Satanael seid ihr nichts.«
Die Stimmen der beiden Engel klirrten wie Schwertklingen, die in einem tödlichen Duell aufeinander hieben. Kyra begriff, dass dies der Wahrheit ungemein nahe kam: Es war ein Duell, ein Kampf geführt mit eiserner Willenskraft und unverblümtem Hass.
Doch da war
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