Sieben Siegel 09 - Tor zwischen den Welten
Rechten klafften der Abgrund und die schäumende Brandung, links raschelten die weiten Wiesen im Abendwind. Die anbrechende Nacht färbte sie grau wie eine erkaltete Lavawüste.
Kyras Verstand arbeitete rasend. Was konnte sie tun? Ihre Kondition war nicht die schlechteste, aber die Nymphen würden sie dennoch früher oder später einholen. Wenn es ihr schon nicht gelang, sie auf irgendeine Weise zu bezwingen, so musste sie sie zumindest irgendwie loswerden. Aber wie?
Sie schlug sich noch immer mit diesem Gedanken herum, als sie plötzlich an einen breiten Bach gelangte, der vor ihr das Grasland teilte und als sanfter Wasserfall über die Klippen in die Tiefe plätscherte. Als sie verzweifelt stehen blieb und sich umschaute, waren die Nymphen direkt hinter ihr, keine fünfzehn Meter entfernt. Und wieder bildeten sie einen Halbkreis, der es ihr unmöglich machte, dem Bach landeinwärts zu folgen. Sie hatte keine Wahl, sie musste das Gewässer durchqueren.
Kyra ahnte, worauf sie sich einließ. Wasser war das Element der Nymphen. Hier waren sie zu Hause, ja, sie selbst waren Wasser, falls auch nur ein Teil von dem stimmte, was Kyra über sie gelesen hatte. Sie verwünschte sich, weil sie sich die Details nicht besser eingeprägt hatte. Aber sie konnte nicht über jede Kreatur des Bösen Bescheid wissen – zumindest nicht, solange sie nebenbei auch noch wie andere Mädchen ihres Alters zur Schule ging. Morgens Latein und Mathe, nachmittags alte Zauberbücher und Monsterkompendien – willkommen im Alltag von Kyra Rabenson, Mädchen von nebenan und Trägerin der Sieben Siegel!
Das Wasser des Baches war eiskalt, als Kyra hineinwatete. Sofort durchdrang es ihre Hosenbeine und kühlte ihre Haut. Kyra fröstelte, trotz der Bedrohung in ihrem Rücken. Die Strömung war ziemlich stark, und sie befürchtete, über die Klippe getrieben zu werden, falls sie auf dem glatten Bachbett aus Kieselsteinen ausrutschte.
Nicht daran denken!, hämmerte sie sich ein. Nur nicht daran denken!
Die Nymphen folgten ihr mit federleichten Schritten, so als trieben sie wenige Fingerbreit über dem Boden. Das hohe Gras teilte sich nicht unter ihren Füßen – sie schwebten einfach durch die Halme hindurch.
Kyra ging jetzt schneller. Der Boden war sehr uneben, immer wieder trat sie in unsichtbare Spalten und drohte über Steinbrocken zu stürzen. Das Wasser reichte ihr nun bis zu den Oberschenkeln, aber sie hatte die unheilvolle Ahnung, dass es noch tiefer werden würde. Im Dunkeln hatte sie die Breite des Bachs auf höchstens fünf Meter geschätzt, jetzt aber schien er gut und gern das Doppelte zu messen.
Einmal warf sie einen Blick über die Schulter.
Die erste Nymphe erreichte den Rand des Gewässers und trat hinein. Aus irgendeinem Grund hatte Kyra erwartet, dass die Geisterwesen über die Oberfläche hinwegschweben würden, doch jetzt sah sie, dass die Nymphen geradezu begierig auf den Kontakt mit dem Wasser waren. Dies war ihr Element, es verlieh ihnen Macht und Stärke. Einmal mehr überkam Kyra das untrügliche Gefühl, in der Falle zu sitzen.
Plötzlich glitt sie auf einem Stein aus, den die Strömung glatt poliert hatte. Mit einem Aufschrei und rudernden Armen fiel sie nach hinten, wurde vom Sog des Abgrunds nach rechts gerissen und spürte mit einem Mal keinen Boden mehr unter sich. Einen kurzen, panischen Augenblick lang glaubte sie, die Strömung hätte sie bereits in die Tiefe gezerrt – gleich, gleich würde der Aufprall kommen …
Doch es gab keinen Aufschlag, kein Zerschellen auf den scharfzahnigen Riffs in der Brandung. Stattdessen wurde ihr klar, dass sie sich noch immer im Bachbett befand, an einer Stelle, wo der Boden eine weiträumige Vertiefung aufwies. Vielleicht konnte sie den Nymphen ja entkommen, wenn sie ihnen unter der Oberfläche davonschwamm.
Sie brach mit dem Kopf an die Luft, atmete tief ein – und sah, dass drei der Wesen direkt vor ihr standen, bis zu den Hüften im Wasser verschwunden. Der Saum ihrer Gewänder schien mit der aufgewühlten Oberfläche zu verschmelzen.
Kyra tauchte unter und riss im Wasser die Augen auf. Die Sicht war klar, und obwohl es stockdunkel hätte sein müssen, wurde der Bach von einem unirdischen Glimmen erfüllt. Auf magische Weise wurde es durch die Anwesenheit der Nymphen verursacht, auch wenn es nicht direkt von ihnen ausging – es war fast, als hätte der Bach auf Grund des hohen Besuchs die Festbeleuchtung eingeschaltet.
Kyra wollte sich umdrehen und losschwimmen,
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