Sieben Siegel 09 - Tor zwischen den Welten
hohe Konzentration, als dass sie sich durch eine Antwort hätte ablenken können. Auf diesen Augenblick, den Triumph über Morgana, hatte sie Jahrhunderte gewartet.
Das Heer der Nymphen um die kreischende Zauberkönigin war zu einem Pulk angewachsen, und immer noch drängten von hinten neue Wassergeister heran.
Kyra konnte es jetzt selbst in ihren Gedanken spüren, tausend fremde Geister, die an ihr zerrten, sie um Befehle baten, die sie leer saugten wie ein Schwarm Vampirfledermäuse. Noch konnte sie nicht einschätzen, wie hoch der Preis war, den sie für diesen Sieg würde zahlen müssen – und war es denn überhaupt ihr Sieg, und nicht viel mehr der ihrer Mutter? Sie war ziemlich sicher, dass sie ihr Zaubertalent nicht für immer verloren hatte, aber es würde eine Weile dauern, ehe sich die verborgenen Reserven in ihrem Inneren wieder füllten, ehe sie – ob sie nun wollte oder nicht – erneut die Macht einer Hexe besaß.
Morganas Schreie brachen ab. Sie war jetzt in der Masse der Wassergeister nicht mehr zu sehen. Dann, ganz abrupt, war es, als hätte jemand an der Stelle, an der sie gestanden hatte, einen Stöpsel unter der Oberfläche geöffnet. Ein ungeheurer Sog entstand, der zuerst den Mittelpunkt des Nymphenpulks, dann auch seine äußeren Ränder erfasste. Je mehr Nymphen im Zentrum des Sogs verschwanden, desto höher stieg der Wasserspiegel. Die schrecklichen Kreaturen wurden wieder Teil des Gewässers und seiner Herrin – Teil von Nimue, der ehrwürdigen Dame vom See.
Kyra spürte, wie sie von unten angehoben wurde, genau wie Dea an ihrer Seite, spürte, wie eine unsichtbare Hand sie aus dem Wasser zog, bevor der Sog auch sie packen und verschlingen konnte.
Sie schwebten über dem See, bis alle Nymphen verschwunden waren, bis das Wasser sich glättete und wieder Frieden eingekehrt war. Kyra sah auf den Zinnen der Festung eine einsame weiße Gestalt, eine Frau in einem glitzernden Schuppengewand. Sie hatte eine Hand erhoben, vielleicht zum Gruß, eher aber, weil sie es war, die Kyra und Dea über dem See schweben ließ.
Am Ufer brach Panik aus, als Morganas Heerscharen erkannten, dass ihre Herrin verschwunden war. Zelte wurden niedergetrampelt, und Fahnenmaste knickten, als sich die Armee fliehend in die Wälder ergoss und verstreute.
Unter Kyra aber bildete sich abermals ein Strudel. Sie wusste, wohin er führte.
»Ich will noch hier bleiben«, rief sie. »Ich will mehr über die Anderswelt erfahren.«
»Ein andermal«, sagte Dea kopfschüttelnd, als sie neben ihr in den Strudel stürzte. »Für heute ist deine Aufgabe erfüllt.«
Dann wieder Dunkelheit und Licht. Und das Ufer des Dozmary Pool.
Als Morgana all ihre Macht auf die Nymphen im See konzentrierte, schloss sich ein anderes Tor zur Wirklichkeit.
Der Drache und die Hunde mit den glühenden Augen verschwanden, lösten sich in Luft auf. Und mit ihnen verdampfte der Nebel, so schnell, wie er aus dem Moor aufgestiegen war.
Lisa, Nils und Chris halfen einander, als sie erschöpft aus dem zerbrochenen Fenster ihres Abteils kletterten. Der Zug war umgekippt, lag auf der Seite neben den Schienen. Ein paar Passagiere hatten Schrammen abbekommen, und einer klagte laut über ein gebrochenes Bein.
Auf Chris’ Stirn prangte ein blutiger Schnitt. Er behauptete jedoch, es täte nicht weh, und als Lisa ihm besorgt das Blut abtupfte, lächelte er schon wieder und hielt ihre freie Hand.
Nils blickte hinaus in die Nacht. Lichter und ein lautes Brummen verrieten das Näherkommen eines Suchhubschraubers. Augenblicke später hatte er sie entdeckt und kreiste über den entgleisten Waggons, während sein Pilot Hilfe herbeifunkte.
»Und Kyra?«, fragte Nils schließlich, als er sich wieder seiner Schwester und Chris zuwandte.
Lisa holte tief Luft, ehe sie antwortete: »Sieht aus, als hätte sie dieses eine Mal ohne uns auskommen müssen.«
Chris nickte. »Sie hat’s geschafft, sonst wäre der Drache nicht verschwunden.«
Lächelnd beugte sich Lisa über seine Wunde und tupfte vorsichtig das letzte Blut von seiner Stirn. »Damit ist sie vermutlich der erste weibliche Drachentöter der Geschichte, oder?«
»Du gehst wieder zurück, nicht wahr?«
Kyra und ihre Mutter standen im Gras am Rande des Dozmary Pool. Zwei Kühe glotzten neugierig herüber und kauten auf Grasbüscheln, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war.
»Ich bin jetzt in der Anderswelt zu Hause, Kyra. Das hier ist nicht mehr meine Welt. Ich habe lange genug für sie
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