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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gestattete sich lediglich das flüchtige Vergnügen, den daraus aufsteigenden Orangenduft einzuatmen, um den Brief dann wieder tapfer in seiner Tasche zu versenken und, der Versuchung widerstehend, den ganzen Tag lang dicht an seinem Herzenzu verwahren, wodurch das Vergnügen bis abends, nach dem Geschirrspülen, aufgeschoben wurde. Dann war es endlich so weit. Er verbrannte ein paar Tropfen Zitrusfruchtessenz, zündete Kerzen an, legte eine Schallplatte mit norwegischem Jazz auf, öffnete schließlich den Umschlag, drang behutsam in die Intimität des gefalteten Bogens ein und las:
     
    Einem Seehund gleich
    schwimmt das Neugeborene
    im klaren Wasser
     
    Bilodo sah es vor sich. Er sah es ganz deutlich, dieses splitternackte Baby in der wässrigen Luminiszenz des postnatalen Schwimmbeckens, das wie zu seiner Mutter, wie in die ausgestreckten Arme einer Sirene, die seine Mutter wäre, auf ihn zu schwamm und ihn mit den strahlend blauen Augen eines verdutzten Feuergeistes ansah, ohne zu wissen, dass es nicht schwimmen konnte, da es sich noch nicht entwöhnt hatte, nicht ahnend, dass das Wasser gefährlich ist, ein fremdes Element, in dem man ertrinken kann, und das bedenkenlos nichts anderes tat, als sich zu bewegen, seinem Instinkt zu folgen, mit geschlossenem Mund einfach nur zu schwimmen. Bilodo sah den kleinen Flossenfüßer genau vor sich, diesen komischen Unterwassergnom mit den vor lauter Jungseingefältelten Gesichtszügen und den mit Luftblasen verzierten Nasenflügeln, der durch die wohligen Fluten glitt, und er musste lachen, weil es so unerwartet, so komisch und zugleich berührend war. Er hatte das Gefühl, selbst zu schwimmen, hörte, wie das Wasser an seinen Schläfen dröhnte; ihm schien, als sei er bei dem Säugling im Schwimmbecken, denn darin bestand die Wirkung des kleinen Gedichts, die beschwörende Kraft all dieser seltsamen kleinen Gedichte, die Ségolène verfasste: Sie ließen einen die Dinge empfinden, ließen einen sie sehen.
    Mehr enthielten die Briefe aus Guadeloupe nicht. Jedes Mal ein einziges Blatt, auf dem ein einziges Gedicht stand. Das war nicht viel und doch mehr als genug, denn diese Gedichte nährten einen wie ein ganzer Roman, sie klangen in der Seele nach, hallten noch lange darin wider. Bilodo lernte sie auswendig und sagte sie sich morgens während seiner Runde auf. Er verwahrte sie sorgsam in der obersten Schublade seines Nachttisches und breitete sie abends gern um sich herum aus, sodass sie eine Art mystischen Kreis bildeten, um sie dann eins nach dem anderen von Neuem zu lesen   …
     
    Himmelsströmungen
    Wolkenmassen brechen auf
    lauter Eisberge
     
    Von ihrer Harfe
    setzt die Spinne zum Sprung an   –
    Bungeekönigin
     
    Lautes Gehämmer
    alle Läden vernagelt
    der Wirbelsturm naht
     
    Nachts auf hoher See   –
    der Hai gähnt in Gedanken,
    kaut einen Mondfisch
     
    Schalen wiegen sich
    im Tango auf dem Tischtuch,
    das die Brise bläht
     
    So unterschiedlich Ségolènes Gedichte auch sein mochten, in ihrer Form waren sie absolut identisch, da sie allesamt aus drei Versen bestanden: aus zwei mit fünf und einem mit sieben Silben, also insgesamt siebzehn Silben, nicht mehr und nicht weniger. Immer dieselbe rätselhafte Struktur, als handelte es sich um einen Code. Da er ahnte, dass es mit einem solchen Gleichmaß eine bestimmte Bewandtnis haben musste, hatte Bilodo bis zu dem Taggerätselt, an dem er nach monatelangen Mutmaßungen schließlich rein zufällig die Erklärung gefunden hatte. Es geschah an einem Samstagmorgen, als er gerade beim Frühstücken im »Madelinot« in einer Zeitung die Rubrik »Unterhaltung« las: Der unerwartete Anblick dreier Zeilen, die offenbar ein kurzes Gedicht darstellten, ganz oben auf einer Seite, hatte zur Folge, dass er sich um ein Haar an seinem Kaffee verschluckt hätte. Das   – übrigens eher enttäuschende   – aus zwei fünfsilbigen und einem siebensilbigen Vers bestehende Gedicht beschränkte sich darauf, das Tagesgeschehen ironisch zu kommentieren; es hatte zwar nichts mit jenen von Ségolène geschaffenen lebendigen Häppchen Ewigkeit zu tun, doch war die Überschrift besagter Rubrik aufschlussreich: DAS SAMSTAGS-HAIKU.   Bilodo war nach Hause geeilt, hatte im Lexikon nachgesehen und den Begriff gefunden:
     
    HAIKU oder HAIKAI, das (japan. Begriff).   – Klassische japanische Gedichtform aus drei Zeilen, von denen die erste und dritte aus jeweils fünf und die zweite aus sieben Silben bestehen.
     
    Das war es

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