Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
also. Das waren also die Gedichte der Guadelouperin. Daraufhin hatte Bilodo in der Bibliothek in noch so vielen Büchern mit Haikus – aus dem Japanischen übersetzten Bänden von namhaften Autoren wie Matsuo Bashō, Taneda Santōka, Nagata Koi und Kobayashi Issa – blättern können, ohne dass auch nur eines der Gedichtedieselbe Wirkung auf ihn gehabt hätte wie jene von Ségolène: Keines trug ihn so weit davon oder ließ ihn die Dinge mit einer vergleichbaren Schärfe sehen und empfinden.
Gewiss hatte Ségolènes Schreibkunst einen wesentlichen Anteil an dieser besonderen Magie, da ihre kursive Handschrift zarter und eleganter war als alles, was Bilodo je hatte bewundern dürfen. Sie war reich und phantasievoll, bestach durch ihre betonten Abstriche und mit ausufernden Schleifen und präzisen Tropfen verzierten himmlischen Aufstriche – eine flüssige, offenherzige, in ihrer vollkommenen Neigung von dreißig Grad und mit den makellosen Abständen zwischen den Buchstaben bewundernswert ausgewogene Schrift. Ségolènes Schrift war eine Wohltat für das Auge, ein Elixier, eine Ode, sie war eine graphische Symphonie, eine Apotheose, so schön, dass man hätte weinen mögen. Da er irgendwo gelesen hatte, dass die Schrift ein Abbild der Seele sei, kam Bilodo zu dem Schluss, dass die Seele Ségolènes von beispielloser Reinheit sein müsse. Wenn Engel schrieben, dann gewiss in dieser Weise.
4
Bilodo wusste, dass Ségolène Lehrerin in Pointe-à-Pitre war, und auch, dass sie schön war. Das wusste er auf Grund eines Fotos, das sie Grandpré geschickt hatte, wahrscheinlich als Dank für eines von ihm, denn auf der Rückseite stand: »Freue mich, Ihre fotografische Bekanntschaft gemacht zu haben. Hier bin ich mit meinen Schülern.« Auf dem Foto sah man sie inmitten einer Schar lächelnder Schüler, doch für Bilodo zählte allein ihr Lächeln, und ihr smaragdener Blick zerschellte tief in seinem Inneren, wie eine Woge an einer Klippe, und hallte wie ein Echo darin wider. Er hatte das Foto digitalisiert, ausgedruckt und auf seinem Nachttisch über der Schublade, in der er ihre Haikus aufbewahrte, in einem Rahmen aufgestellt. So konnte er Ségolène allabendlich vor dem Einschlafen betrachten, um dann von ihr zu träumen, von ihrem Lächeln, ihrem Blick und all den anderen wundersamen Facetten ihrer Erscheinung, von gemeinsamenromantischen Spaziergängen am Meer, während sich in der Dämmerung der Vulkan Marie-Galante abzeichnete, am Himmel orangefarbene Wolkenmassen heraufzogen und der Wind durch ihrer beider Haar fuhr, es sei denn, das Universum der Haikus gesellte sich zu seinen Traumphantasien, und er träumte vielmehr davon, sie würden gemeinsam Bungee springen, an einem endlosen Gummiband hinabstürzen, in einen wohlriechenden Ozean eintauchen und inmitten von Mondfischen, Amphibienbabys und verblüfften Haien zwischen Korallen dahintreiben.
Bilodo war in einem Maße verliebt, wie er es im Leben nicht für möglich gehalten hatte. Ségolène hatte eine solche Macht über seine Seele, dass er manchmal beunruhigt war und Angst hatte, nicht mehr sein eigener Herr zu sein, doch die alchimistische Lektüre einiger Haikus ließ seine Befürchtungen im Nu einem Hochgefühl weichen. Dann dankte er dem Leben für die Gunst, ihm die Schönheit aus Guadeloupe geschickt zu haben. Sein Glück wurde einzig und allein von jenem Neidgefühl überschattet, das bei der Vorstellung, dass Ségolènes Briefe eigentlich einem anderen galten, in ihm aufkeimte. Nach der Lektüre eines neuen Gedichts wurde er jedes Mal von Eifersucht geplagt, wenn er den Umschlag wieder versiegelte und tags darauf in den Briefschlitz von diesem Gaston Grandpré, seinem Rivalen, steckte. Wie hatte erSégolène wohl kennengelernt? Was bedeutete sie ihm? Die Notiz auf der Rückseite des Fotos und der allgemeine Tenor der Gedichte zeugten lediglich von Freundschaft, was Bilodo ein wenig tröstete. Dennoch waren die Briefe an Grandpré gerichtet, der sich so glücklich schätzen konnte. Bilodo erhaschte hin und wieder einen Blick auf ihn, wenn er, mit Bart und zerzaustem Haar ziemlich vernachlässigt aussehend, in seinem extravaganten roten Morgenmantel auf der Türschwelle stand und so aussah, als hätte er die Nacht durchgefeiert. Ein komischer Kauz, der wie ein zerstreuter Professor auftrat. Ein seltsamer, zerrupfter Vogel. Wie reagierte er, wenn er auf seiner Fußmatte einen Brief von ihr vorfand? Konnte er es kaum erwarten, sich an der
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