Sieg des Herzens
Handelsherrn, mit dem Sohn doch einmal in eine andere Gegend zu fahren, am besten ins Gebirge, wo die Luft kräftiger sei als im Flachland.
Und so fuhr denn die Familie mit dem Fünfjährigen auf beschwerlichen Wegen in die Alpen. Dort, inmitten der zum Himmel ragenden Felsen, der grünen Auen, der kräftig nach Kühen riechenden Almen und der duftenden Bergwälder, dort an den klaren, eisigen Bergbächen, die sich rauschend und mit Gestein kämpfend in die dunklen Seen ergossen, dort sollte er die Kräfte finden und in sich aufsaugen, die ihm zu fehlen schienen.
Jedoch, wenn auch sein Äußeres erblühte, seine Seele änderte sich nicht. Im Wald sah er fast verzaubert einem Eichkätzchen zu, wie es, von Baum zu Baum sich werfend, dem Gesetz der Schwerkraft hohnzulachen schien. Ein Schmetterling entzückte ihn mit seinem gaukelnden Flug, und nur allzuoft lauschte er, am Waldesrand liegend, dem Gesang der Vögel. Die blauen Blüten des Enzians reizten ihn mehr als der Degen, den er zu Hause zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, und als ihm auf sein Bitten hin gar ein einheimischer junger Bursche ein Edelweiß überließ, barg er diesen Schatz mit heißen Händen an seiner Brust, lief mit ihm an eine einsame Stelle, warf sich ins Gras und ließ seine kleinen Finger immer wieder über die samtenen Spitzen dieses Wundersternes der Natur gleiten.
Die Eltern schüttelten die Köpfe. Vergeblich war die Kur, von der sie und ihr Hausarzt sich soviel versprochen hatten. Nein, der Knabe wandelte sich nicht, diese Reise hatte ihn erst recht für das gewonnen, was sie ihm abzugewöhnen getrachtet hatten.
Der Vater, dem der Drang des Sohnes nach Einsamkeit besonders mißfiel, zog, als der Tag der Rückfahrt nahte, seine Gattin beiseite und meinte, diese Schwärmerei sei schön, jedoch gefährlich.
»Sieh nicht zu schwarz«, antwortete sie. »Noch ist er doch ein Kind. Bewillige ihm noch eine Frist, du wirst sehen, die Zeit verwandelt vieles.«
»Gott gebe, daß du recht behältst«, seufzte er, der stets, sogar auch in solchen Lagen, nicht aus seiner Haut eines Handelsherrn heraus konnte. »Ich sähe es nicht gern, wenn einmal meine Bücher Gedichte enthielten, und nicht mit Sorgfalt errechnete Bilanzen.«
»Er ist noch ein Kind«, wiederholte die Gattin lächelnd. Ihr schien der Argwohn verfrüht, wenn auch doch schon im geheimen bedenkenswert.
Der Vater aber knurrte: »Kind! Einmal muß Schluß sein damit …«
»Doch nicht bei einem Fünfjährigen«, unterbrach sie ihn.
»Versteh mich nicht falsch, meine Liebe. Ich meine, einmal müssen sich erste Anzeichen dafür zeigen, daß er sich normal entwickelt, daß ein Mann aus ihm wird, ein Realist und kein … Schwärmer!«
Das Urteil war gefällt, ein Urteil, das ein Leben lang Geltung haben sollte in bezug auf denjenigen, der es nunmehr herausgefordert hatte.
Das Urteil war gefällt, der Vater selbst hatte es ausgesprochen, in Erregung zwar, aber dennoch nicht ohne Überlegung. Daß es das Schicksal selbst war, das ihm dieses Urteil einflüsterte, hätte er durchaus bestritten – und trotzdem war es so!
Dem Sohne folgte das Urteil von nun an auf allen seinen Wegen. Es wurde ihm zum grausamen Ballast, zum immerwährenden Schatten seines Ichs, der sich zum katastrophalen Sinn seines Lebens auswuchs.
Ein Schwärmer …
Zu schnell vergißt der Mensch.
Sei's das Gute, sei's das Schlechte, nach einer Spanne Zeit pflegt die Erinnerung zu verblassen, und manchmal nur, wenn das Gespräch jene Regionen streift, die der Vergangenheit angehören, wird unklar nur das eine oder das andere geweckt. Meistens ist es dann das Gute, das wiederersteht, nicht das Schlechte. Warum das so ist, weiß der Teufel.
Selten wird z.B. mehr gelacht, als wenn Männer zusammensitzen und vom Krieg reden, den sie mitgemacht haben. Nicht das Grauen der Schlachten ist es, an das sie sich erinnern, sondern das Faß Wein, welches sie in einem verlassenen Keller fanden.
Es scheint zur Psyche des Menschengeschlechts zu gehören, das Lustige zu registrieren, das Traurige zu verdrängen.
Auch der Vater vergaß bald die Eindrücke der Reise. Das strenge Urteil, das er sich gebildet hatte, wurde aufgesogen von der Last und Hast der täglichen Arbeit.
Indes, das Schicksal lauerte …
Einst rief der Vater, wenn der Sohn in seinen Armen jauchzte: »O Gott, wie bin ich glücklich! Nichts kann geschehen, was in der Lage wäre, mich traurig zu machen!«
Das war nackter Frevel. Und siehe da, das Schicksal
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