Silberfieber
Er ist mittlerweile auch schon über siebzig und hat in seinem Leben schon alles gesehen. Und die ärgsten Ängste hat er ja sowieso längst hinter sich.« Als er die fragenden Blicke seiner Besucher sah, fügte er hinzu. »Ja, dann muss ich Ihnen wohl ein paar vorbereitende Worte sagen. Zunächst einmal wünsche ich Ihnen einen erfolgreichen Verlauf Ihrer Forschungen und Ihrer Diplomarbeiten.« Er zögerte einen kurzen Moment, weil ihm etwas einzufallen schien. »Nein, ich glaube, extra eine schriftliche Genehmigung für eine Befragung einzuholen, muss ich von Ihnen nicht verlangen, das wäre wohl nur der Fall, wenn Sie Franz zu medizinischen Forschungszwecken besuchen wollen würden. Ha, welch ein Gedanke!« Er lachte kurz auf.
»Nein, dafür ist Franz gänzlich ungeeignet. Aber um zum Wesentlichen zu kommen. Ich darf Ihnen selbstverständlich nichts über seine Krankheit erzählen, denn es gibt ja auch in der Schweiz eine ärztliche Schweigepflicht«; als er sah, dass Frank ihn unterbrechen wollte, winkte er mit einem kurzen Lächeln ab und sprach weiter, »aber wenn jemand solche Symptome hat wie Franz Felgendreher, ich sage ausdrücklich wenn, nicht dass er sie hat, wenn Sie verstehen, was ich meine, dann sprechen wir in der Psychiatrie von einer endogenen Psychose in Form eines schizophrenen Krankheitsbildes. Wahrscheinlich wissen Sie im Groben, was das ist, aber ich möchte es noch ein wenig erläutern. Schließlich müssen Sie ja vorbereitet sein. Eine klassische Schizophrenie äußert sich in den verschiedensten Formen von Phobien, in zwanghaften Handlungen oder wie bei unserem guten Franz …«
Bei diesen Worten schien es Frank, als hätte er ihm verschwörerisch zugezwinkert. Er hatte allen Ernstes ›bei unserem guten Franz‹ gesagt. Aber Dr. Dufner kam jetzt erst richtig in Fahrt. »… bei unserem guten Franz äußert sich die Schizophrenie vor allem in zwanghaften Ideen und Wahnvorstellungen. Anders als bei vielen anderen Patienten, die unter der gleichen Krankheit leiden, wird er nicht aggressiv. Franz ist mehr der ruhige, der ängstlich verstimmte Typ, ansonsten sieht man bei ihm alle Spielarten, tief greifende Beeinträchtigungen beim Denken, Wahnvorstellungen und so weiter, um es auf den Punkt zu bringen: Er redet wirres Zeug, und manchmal hört er Stimmen. Der Matto hat ihn, sagte man hier früher, aber der herrscht schon lange nicht mehr. Wie alle seine Mitpatienten ist auch Franz sehr ruhig, hier herrschen jetzt Neuroleptika und Psychopharmaka, nicht der Matto. Aber nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Selbstverständlich arbeiten wir hier mit einer umfassenden, auf die Wiederherstellung der Gesundheit gerichteten, begleitenden Therapie, nachmittags Spaziergang im Park, zahlreiches gut ausgebildetes Pflegepersonal, eine vierundzwanzigstündige Rundumversorgung, na, Sie wissen schon.«
Die letzten Sätze hatte Dr. Dufner gesprochen, als hätte er sie auswendig gelernt oder aus der Krankenhausbroschüre abgelesen, dachte Frank.
»Ich glaube, das reicht als kleine Einführung. Oder haben Sie noch Fragen? Sonst werde ich Sie jetzt einfach zu ihm bringen.« Er stand auf und nahm einen Schlüsselbund aus seiner Schreibtischschublade.
Doch Frank hielt ihn auf: »Er hört Stimmen? Was für Stimmen?«
Dr. Dufner hatte nicht mit einer Frage gerechnet, so sehr war er mit seinem routinierten Vortrag beschäftigt gewesen, und schien jetzt aus dem Konzept gebracht.
»Stimmen? Ja, natürlich, Franz hört Stimmen«, er zögerte einen Moment, als versuche er, sich an mehr Details zu erinnern.
»Richtig, ja, Franz hört seinen Vater sprechen. Ich hatte es schon vergessen, ist schon fast selbstverständlich für uns. Sein Vater war übrigens auch hier. Er war sogar mal für kurze Zeit eine lokale Berühmtheit, der Georg Felgendreher, hat mit dem berühmten Albert Einstein zusammengearbeitet, haben Sie von ihm gehört? Ich meine von Georg Felgendreher, nicht Einstein«, er lachte kurz über seinen eigenen ungewollten Witz.
»Nein, bestimmt nicht, das ist ja auch alles schon so lange her.«
Er stand wieder auf, öffnete die Tür und machte eine weit ausholende Bewegung mit seiner Hand. »Bitte gehen Sie vor, ich muss nur noch hinter uns abschließen.«
Auf dem Gang warteten sie, bis Dr. Dufner seine Bürotür hinter sich abgeschlossen hatte, dann trat er zu ihnen, und sie gingen zusammen den langen Flur hinunter. An der letzten Tür auf der linken Seite hielt Dufner an, suchte nach dem passenden
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