Silbermantel
Schritte hüllte er sich in eine andere Art Schweigen, ehe er sich an den Zwerg neben ihm wandte.
»Gibt es irgendeinen Grund«, fragte er sehr leise, »warum jemand Sie beide verfolgen sollte?«
Matt Sören kam nur einen Augenblick lang aus dem Tritt. Er holte tief Luft. »Wo?« fragte er ebenso leise.
»Links hinter uns. Am Hang. Gibt es einen Grund?«
»Möglicherweise. Würden Sie bitte weitergehen? Und zunächst darüber schweigen – vielleicht ist es ja nichts von Bedeutung.« Als Paul zögerte, fasste der Zwerg seinen Arm. »Bitte!« wiederholte er. Da nickte Schafer und beschleunigte seine Schritte, um zu der Gruppe einige Meter vor ihm aufzuschließen. Dort war die Stimmung inzwischen ausgelassen und recht laut. Nur Paul, der genau hinhörte, nahm den spitzen, abrupt abbrechenden Schrei aus der Dunkelheit hinter ihnen wahr. Er blinzelte, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos.
Matt Sören gesellte sich wieder zu ihnen, als sie gerade das Ende des schattigen Pfades erreicht hatten und in den Lärm und das Lichtermeer der Bloor Street hinaustraten. Vor ihnen lag das riesige Gemäuer des alten Park Plaza Hotels. Ehe sie die Straße überquerten, legte er noch einmal die Hand auf Schafers Arm.
»Danke«, sagte der Zwerg.
»Also«, begann Lorenzo Marcus, als sie es sich in seiner Suite im achtzehnten Stock in den Sesseln bequem gemacht hatten, »wie wäre es, wenn ihr mir der Reihe nach von euch erzähltet. Von euch selber«, wiederholte er und drohte dem grinsenden Kevin mit erhobenem Zeigefinger.
»Warum fängst du nicht an?« fuhr Marcus fort und wandte sich an Kim. »Was studierst du?«
Kim fügte sich bereitwillig. »Nun, ich beende gerade mein Assistenzjahr am –«
»Moment mal, Kim.«
Das war Paul. Er ignorierte einen finsteren Blick des Zwerges und richtete die Augen auf ihren Gastgeber. »Tut mir leid, Dr. Marcus. Ich habe selbst einige Fragen, und ich muss sofort Antwort darauf haben, sonst gehen wir allesamt nach Hause.«
»Paul, was zum –«
»Nein, Kev. Hör mal einen Augenblick zu.« Nun starrten sie alle in Schafers blasses, angespanntes Gesicht. »Hier geht etwas sehr Seltsames vor. Ich möchte wissen«, wandte er sich an Marcus, »warum Sie so bemüht waren, uns aus der Menge auszusondern. Warum Sie Ihren Freund geschickt haben, um das vorzubereiten. Ich möchte wissen, was Sie im Saal mit mir angestellt haben. Und ich möchte insbesondere wissen, warum wir auf dem Weg hierher verfolgt wurden.«
»Verfolgt?« Die Verblüffung, die sich auf Lorenzo Marcus’ Gesicht zeigte, war eindeutig echt.
»So ist es«, beharrte Paul, »und ich will auch wissen, von wem.«
»Matt?« fragte Marcus, beinahe unhörbar. Der Zwerg warf Paul Schafer einen langen, starren Blick zu. Paul hielt ihm stand. »Unsere Prioritäten«, erklärte er, »können in dieser Sache nicht die gleichen sein.«
Da nickte Matt Sören und wandte sich an Marcus. »Freunde aus der Heimat«, sagte er. »Es scheint Leute zu geben, die genau wissen wollen, was du tust, wenn du … reist.«
»Freunde?« fragte Lorenzo Marcus. »Im weitesten Sinne. Im allerweitesten.« Es entstand eine Pause. Marcus lehnte sich im Sessel zurück und strich sich den grauen Bart. Er schloss die Augen.
»Wäre es nach mir gegangen, hätte ich anders begonnen«, sagte er endlich, »aber vielleicht ist es so am besten.« Er sah Paul ins Gesicht. »Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich habe dich heute Abend einer Sache ausgesetzt, die wir eine Prüfung nennen. Sie funktioniert nicht immer. Manche wehren sich mit Erfolg dagegen, und bei anderen, wie bei dir, können sich seltsame Dinge ereignen. Was zwischen uns geschehen ist, hat auch mich beunruhigt.«
Pauls Augen, die im Lampenlicht mehr blau als grau wirkten, blickten erstaunlich wenig überrascht. »Wir werden uns noch darüber unterhalten müssen, was wir gesehen haben«, bemerkte er zu Lorenzo Marcus, »aber die Frage ist doch jetzt: Warum haben Sie es überhaupt getan?«
Da waren sie nun also. Kevin, der mit angespannten Sinnen weit vorgebeugt dasaß, sah Lorenzo Marcus tief durchatmen, und in diesem Augenblick überkam ihn blitzartig die Vorstellung, sein Leben befinde sich am Rande eines Abgrunds.
»Weil«, legte Lorenzo Marcus offen dar, »du ganz recht hattest, Paul Schafer – ich wollte heute Abend nicht nur einem langweiligen Empfang entgehen. Ich brauche euch. Alle fünf.«
»Wir sind keine fünf.« Daves schwerfällige Stimme unterbrach ihn. »Ich habe mit diesen
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