Geliebter Vampir (German Edition)
1. Kapitel
New Orleans, 1872
Im French Quarter von New Orleans ging es hoch her. Der Mardi Gras, wie der berühmte Karneval hieß, hatte zwei Wochen vor F a schingsdienstag begonnen und strebte seinem Höhepunkt zu. Helen Farrar, der rothaarigen Ärztin, stand der Sinn nicht nach Feiern. Müde schleppte sie sich mit ihrem Arztkoffer von einem Krankenb e such durch die Straßen.
Da sah sie in einem dunklen Hauseingang eine zierliche, blonde Person. Die Ärztin blieb stehen. Allzu groß war die Ähnlichkeit jener schönen blonden Frau mit ihrer vor einem Jahr verstorbenen Schwester. Das konnte nicht wahr sein. Es ist eine zufällige Äh n lichkeit, sagte sie sich. Bleibe vernünftig, H e len. Du hast selbst Blanches Tod festgestellt. Das Sumpffieber hat sie hingerafft. Quäl’ dich nicht, geh deiner Wege.
Doch die junge Ärztin konnte das nicht. Sie überquerte die Straße und wich einer Gruppe Maskierter aus, die sie mitziehen wollten . Sie hörte englische und französische Worte. Phantastisch waren die Masken der Männer und Frauen. Sie umringten H e len.
» Komm mit uns, feiere! Lass uns tanzen und lieben, die Nacht g e nießen. Das Leben ist kurz, und der Tod ist so lang. «
Helen wehrte ab.
» Lasst mich. Sprecht nicht vom Tod. «
» Spielverderbin « , hörte sie die Stimme einer Kreolin, deren Kostüm eine Menge enthüllte. » Lasst sie laufen. «
Eine Kapelle mit Trommeln und Hörnern marschierte vorbei. Die farbigen Musikanten waren gleichfalls maskiert und tanzten umher. Musik steckte ihnen im Blut.
Helen wich ihnen aus. Sie verrenkte sich den Hals, um die Blo n dine im weißen, tief ausgeschnittenen Kleid in dem Hausflur sehen zu können. Diese hatte sich an einen kräftigen Flu ss matrosen g e hängt, der kaum maskiert war und bestimmt einiges getru n ken hatte. Die beiden verschmolzen miteinander in enger Uma r mung.
Das ist wirklich zu lächerlich, dachte Helen. Erstens lebt me i ne Schwester nicht mehr. Zweitens würde sie sich nie, nie mit e i nem Mann weit unterhalb ihres Standes einlassen. Der Mardi Gras, jener ausgelassene, tolle Fasching von New Orleans, verwischte vielleicht die Standesgrenzen, jedoch nicht die von Leben und Tod.
Aber der innere Zwang wich nicht. Zu sehr hatte die Ärztin der Tod ihrer jüngeren Schwester getroffen. Sie wollte jene Blondine sehen, um wenigstens noch einmal den Blick auf eine ihrer Schwe s ter äußerlich ähnliche Frau zu erhaschen. Es ließ ihr keine Ruhe, und sie spürte sich wie von einem Magnet ang e zogen.
Musik erklang aus einer nahen Kneipe. Die verschnörkelten Öll a ternen am Straßenrand gaben sanftes Licht. Dämmrig war es, ein u n wirkliches Zwielicht, in dem weich die Konturen ve r schmolzen. Mehrstöckige Backstein-und Holzhäuser mit Balkonen standen eng aneina n dergebaut an beiden Seiten der Straße.
Das Paar, dem Helen zustrebte, befand sich im Hausflur einer mehrstöckigen steinernen Mietskaserne mit schmiedeeisernen Balko n gittern zur Straße hin. Helen hörte die Musik und den Lärm der ausgelassenen Stimmen nicht mehr. Sie stand kurz vor dem eng u m schlungenen Paar.
Von der Frau konnte sie nur die hellblonden Haare sehen. Der Matrose, ein hochgewachsener, pockennarbiger Weißer, hatte den Kopf zurückgelegt. Die Frau hing an seinem Hals. Ihre Schultern zuckten. Mit weitaufgerissenen Augen und verschleiertem Blick starrte der Matrose im blauen Hemd Helen an. Er schien völlig en t rückt zu sein.
Helen wollte nicht weiter stören. Ob Ähnlichkeit oder nicht, es widerstrebte ihr, die Intimität dieses Paares zu stören. D a zu war sie zu gut erzogen. Doch gerade als sie sich abwenden und davong e hen wollte, löste die hellblonde Frau ihre Lippen vom Hals des viel größeren Mannes.
Helen sah deutlich zwei Bi ss male, die bis in die Halsschla g ader reichten. Blut sickerte hervor. Plötzlich roch Helen i n tensiv den Geruch von Magnolien und Chrysanthemen. Von der Beerdigung ihrer Schwester war er ihr deutlich in Eri n nerung.
Der Matrose wankte. Schweiß sickerte ihm von der Stirn. Das war keine normale Liebkosung gewesen, der er da unterlag. Die blonde Frau aber drehte sich um. Ihr schulterfreies weißes Kleid wies ein paar Blutspritzer auf. Ihr Mund war mit Blut beschmiert, das G e sicht verzerrt.
Giftig fauchte sie Helen an und streckte ihr die Rechte wie e i ne Kralle entgegen. Zwischen ihren makellosen Brüsten, deren A n satz das weiße Kleid freigab, hing das Amulett, mit dem sie b e stattet worden war. Ein
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