Silbermuschel
Federica de Cesco
Silbermuschel
Roman
2
Buch
Die Kindheit der jungen Französin Julie ist von traumatischen Erinnerungen geprägt. Um dem Elternhaus zu entkommen, stürzt sie sich in eine unglückliche Ehe mit dem Schweizer Verleger Bruno. Doch die furchtbare Vergangenheit verfolgt sie noch immer und hat ihre Fähigkeit zu lieben fast völlig abgetötet.
Julies Freundin Franca überredet sie schließlich, für zwei Wochen mit nach Japan zu reisen. Und die Begegnung mit der fremden Kultur wird für Julie zu einer Offenbarung. Als sie ein japanisches Theater besucht und dort den Künstler und Regisseur Ken trifft, springt der Funke sofort über: Julies Gefühle entzünden sich wie ein trockenes Bündel Stroh, und Ken, der Trommler, der Heiler, der Schamane, wird Julies Liebhaber. Zum ersten Mal empfindet Julie genug Vertrauen, um sich für einen anderen Menschen völlig zu öffnen, wie auch Ken endlich den Mut aufbringt, sich seinen Erinnerungen zu stellen…
Autorin
Federica de Cesco, geboren in Italien, wuchs in verschiedenen Ländern mehrsprachig auf und studierte in Belgien Kunstgeschichte und Psychologie. Heute lebt sie mit ihrem Mann, einem japanischen Fotografen, in der Schweiz. Sie hatte bereits über fünfzig höchst erfolgreiche Romane für Kinder und Jugendliche sowie mehrere Sachbücher verfasst, als ihr mit dem Roman »Silbermuschel« ein fulminantes Debüt in der Erwachsenen-Belletristik gelang.
3
Lektorat Johannes Thiele
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Cesco, Federica de:
Silbermuschel/Federica de Cesco. -4. Aufl. – Hamburg: Hoffmann und Campe, 1996
ISBN 3-455-03754-2
Copyright © 1994 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Schutzumschlaggestaltung: Lo Breier/Kai Eichenauer unter Verwendung eines Fotos von
The Image Bank/Gary Cralle
Gesetzt aus der Aldus
Satz: Utesch Satztechnik GmbH, Hamburg
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
4
Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit, der Tau, die Morgenmette und die Maid
der fremde Mann, die Mutter und der Tod
Rainer Maria Rilke
Da steht ein Baum mit so vielen Ästen, Zweigen und Blättern.
Wenn dein Sinn bei einem der Blätter einhält, so kannst du alle übrigen nicht mehr sehen.
Stellen wir uns ohne vorgefaßte Meinung
oder gefesselte Aufmerksamkeit dem Baume gegenüber, so werden wir jedes einzelne seiner Blätter wahrnehmen können Takuan
5
Für Kazuyuki, natürlich
Und für Rosa Wicki, die meine Berge versetzte.
6
PROLOG
D er feuchte Sand war mit Muschelsplittern verkrustet, brauner Tang und giftgrünes Seegras klebten an den Steinen. Am Strand war der Sand ziemlich fest, aber entlang der Mole begannen die glitschigen Stellen. Das Wasser schwappte hin und her und saugte an den Steinen. Vorsichtig stapfte ich durch die Pfützen. Die Brandung hatte Strandgut herangeschwemmt: Dosen, Stoff- und Mattenfetzen, Plastikflaschen, Bretter und verfaulte Früchte. Seeschwalben, die im Geröll und in den Pfützen Nahrung suchten, erfüllten die Luft mit ihrem Kreischen. Die Mole war brusthoch und nur zwei Planken breit. An ihrem Ende befanden sich die Liegeplätze einiger Boote. Fern vom Lärm und dem Gedränge im Dorf saß ein alter Mann in einem Ruderboot und hielt eine Angel ins Wasser. Sein runzliges Gesicht war dunkelbraun. Er trug eine schmuddelige Windjacke und grüßte mit gemessener Verbeugung. Wir erwiderten seinen Gruß und spürten, daß er uns mit den Blicken folgte. Ich ging sehr unbeholfen, weil ich die Bänder aus meinen Turnschuhen gezogen hatte. Ich trug auch keinen Büstenhalter und fühlte bei jeder Bewegung das weiche Schaukeln meiner Brüste unter dem T-Shirt. Ebenso hatte ich den Gürtel entfernt, und meine Hose saß so locker um die Hüften, daß ich fürchtete, sie zu verlieren. Kimiko hatte es so angeordnet.
»Warum?« hatte ich dich gefragt.
»Das muß so sein«, hattest du erwidert. »Kimiko wird dir alles erklären.«
Gleich hinter einem verrosteten Kran begann der Fußweg, den wir schon oft gegangen waren. Er schlängelte sich zwischen immergrünen Sakaki-Büschen, Hagebuttensträuchern und Oleander hoch, dessen dunkle Blätter giftig waren. Im Gras zirpten Grillen. Das Zirpen verstummte, wenn wir vorbeigingen, um gleich darauf wieder zu beginnen. Hinter dem Kran erreichten wir die Stelle, wo der Weg zum Berg hin abzweigte. Ich fragte mich, wie oft Kimiko diese Strecke wohl zurücklegte. Sie wohnte in einem kleinen Haus am Waldrand. Elektrizität gab es
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