Silbertod
geändert, nahm er das ganze Bündel heraus und begann, die Zeitungsausschnitte von oben nach unten durchzublättern. Sie stammten alle aus dem Chronicle und waren bis auf einen oder zwei von Deodonatus Snoad verfasst. Der Reihe nach berichteten sie von dem Mord an Fabian. Alles kam vor, die Entdeckung der Leiche, das Verschwinden des Oscar Carpue und die Verdächtigungen, diese nie endende Unterstellung, dass Oscar der Bösewicht sei. Am letzten Artikel blieb Pin lange hängen. Dieses Machwerk ärgerte ihn ganz besonders.
Was treibt einen Mann zum Mord?
Von Deodonatus Snoad
Überlegungen zu dem berüchtigten Fall des OSCAR CARPUE und dem Mord an FABIAN MERDEGRAVE
Kopfschüttelnd und mit gerunzelter Stirn starrte Pin auf die Zeilen. Wie oft hatte er solche Artikel gelesen und wiedergelesen? War denn niemand sicher vor Deodonatus’ vergifteter Feder? Gestern war sogar Aluph erwähnt worden. Er hatte Wachtmeister Coggley geholfen, einen Toten aus dem Uferschlamm des Foedus zu ziehen. Ein weiteres Opfer des Silberapfel-Mörders. Deodonatus nannte Aluph in seinem Artikel einen »Beulen-Deuter«, was ganz und gar nicht der Bezeichnung entsprach, die Aluph immer als seinen Beruf angab. Trotzdem war Aluph nicht allzu ärgerlich, denn eine Erwähnung im Chronicle konnte seiner Meinung nach nur gut fürs Geschäft sein. Deodonatus hatte sogar angedeutet, er werde Aluphs Dienste vielleicht selbst einmal nutzen – »im Interesse seiner verehrten Leser«.
»Dieser Teufel!«, sagte Pin laut. »Der einzige Mensch, für den sich Deodonatus Snoad interessiert, heißt Deodonatus Snoad.« Niedergeschlagen verstaute er das Bündel Zeitungsartikel wieder in dem Kästchen, legte sein Tagebuch obendrauf und schloss den Deckel. Dann stieg er missmutig ins Bett. Was war das für ein Tag gewesen! Immer wieder kehrten seine aufgewühlten Gedanken zum Silberapfel-Mörder zurück. Es war eine absurde Vorstellung, dass sein Vater irgendetwas damit zu tun haben könnte!
Pin schloss die Augen und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht nur eine Leichenwache gehabt, sondern Mr Gaufridus war am Nachmittag auch noch weggerufen worden und Pin hatte alles allein machen müssen – hämmern, sägen, hobeln, bohren und zwischendurch hundertmal treppauf, treppab laufen. Anscheinend herrschte zurzeit eine Flut von Nachfragen undjeder Kunde betätigte ungeduldig die Glocke auf dem Ladentisch. Am Abend waren Pins Muskeln verkrampft und der Mund tat ihm vom vielen Reden weh.
Als es leise an seiner Tür klopfte, fuhr er auf.
»Ja?«, rief er, und Juno trat ein. Sie war in ihren Umhang gehüllt und zum Weggehen angezogen.
»Ich habe gedacht, du würdest vielleicht gern mitkommen, das Gefräßige Biest anschauen?«, sagte sie. »Sollten wir tatsächlich zusammen weggehen, musst du’s doch vorher mal gesehen haben.«
Pin lächelte. Er wusste, dass sie sich über ihn lustig machte, aber es war nicht unfreundlich gemeint.
»Keine Angst«, sagte er lachend. »Ich komm schon noch hinter euren Trick. Aber sag, müsstest du heute Abend nicht im Flinken Finger sein?«
Juno schüttelte den Kopf. »Benedict sitzt zurzeit die Kälte in den Knochen. Er sieht gar nicht gut aus.«
Du siehst selbst nicht so gut aus, dachte Pin mitfühlend. Junos ohnehin immer blasse Haut wirkte fast durchsichtig und ihre Schläfenadern schimmerten bläulich.
»Kommst du also mit?«
Pin nickte und zog seine Stiefel an. Sie hatte recht: Ob sie nun gemeinsam oder getrennt gingen, es wäre eine Schande, Urbs Umida zu verlassen, ohne sich vorher das Gefräßige Biest angeschaut zu haben. Und was das Für und Wider derartiger Attraktionen betraf – Pin hatte da durchaus seine Vorbehalte –, so würde er später darüber nachdenken.
»Schön«, sagte Juno, die bereits an der Tür stand.
Pin knöpfte seinen Mantel zu und eilte hinter ihr her.
Im Flinken Finger gönnte sich Rudy Idolice, stolzer Besitzer und Aussteller des Gefräßigen Biests, eine kurze Pause und hielt gerade ein Nickerchen auf seinem Stuhl. Eine seiner wenigen Begabungen war die Fähigkeit, in praktisch jeder Stellung und zu jeder Zeit zu schlafen.
Er passte gut auf das Tier auf, so gut wie auf alle seine Besitztümer, besonders auf die, mit denen er Geld verdiente. Gelegentlich, wenn nicht viel los war, stieg er in den Keller hinunter, stellte sich vor den Käfig und sah zu, wie die Bestie sich durch den Haufen verdorbener Abfälle fraß. Für Rudy war die Bestie immer
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