Silbertod
Das war so deutlich in ihren hässlichen Gesichtern zu sehen wie die krummen Nasen und schielenden Augen. Pin hatte schon früh gelernt, dass er anders war als sie. Die Kinder auf der Straße hatten ihn immer gehänselt, weil seine Mutter aus einer wohlhabenden Familie kam und er deshalb die Vokale weich aussprach wie die Leute aus dem Norden und nicht mit dem rauen Akzent der Südstädter. Was sie der Familie Carpue jedoch am meisten verübelten, war die Behauptung, sie seien so arm wie alle andern hier. Was für ein Geschwätz! Wie sollte eine Frau mit solchen Manieren und solchem Auftreten kein Geld besitzen? Welchen Grund sollte Oscar Carpue denn sonst gehabt haben, sie zu heiraten? Es war auch nicht hilfreich, dass Onkel Fabian immer wieder bei ihnen aufgetaucht war – fein gekleidet (aber mit leeren Taschen) – und dass Oscar ihn ein ums andere Mal weggeschickt hatte. »Wir haben nichts für dich«, hatte er zu ihm gesagt.
Nicht einmal nach dem Tod der Mutter im vergangenenJahr hatten die Bosheiten ein Ende gefunden. Denn danach beschlossen die Leute, es Oscar Carpue anzulasten, dass er seine Erbschaft nicht mit ihnen teilte. »Es gibt keine Erbschaft«, erklärte er ihnen mehr als einmal. »Ich bin nichts weiter als ein Tischler. Wir besitzen keinen Penny.« Aber er konnte sie nie überzeugen, und nun, nachdem Fabian tot war, ermordet, wurde wieder mit Fingern auf Oscar Carpue gezeigt.
Pin verbrachte die darauffolgende Woche damit, dass er Tag und Nacht durch die Straßen lief und suchte, aber er fand keine Spur von seinem Vater. Die Woche danach musste Pin die Pension verlassen. Er konnte weder allein für die Miete aufkommen, noch war er dort gern gesehen. Zehn erbärmliche Tage lang suchte er nach Arbeit, dann wurde er endlich von Mr Gaufridus eingestellt. Dadurch war er in der Lage, sich ein Zimmer bei Barton Gumbroot zu mieten, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als von dort wegzukommen …
Pin zitterte vor Kälte, als er von einer großen Schneeflocke, die zwischen Hals und Mantelkragen gelandet war, in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Die Glocke schlug die Viertelstunde und er sprang auf.
»Ich muss jetzt gehen, Mutter«, sagte er. »Ich darf nicht zu spät zu Mr Gaufridus kommen, sonst sucht er sich einen anderen Jungen für meine Arbeit. Er sagt, es laufen genügendherum, die dazu bereit sind, und das glaube ich ihm. Die Leute in dieser Stadt tun für Geld alles. Aber ich verspreche dir, dass ich nicht wieder so viel Zeit vergehen lasse.«
Er strich sacht über das Kreuz, dann machte er kehrt und lief leichtfüßig und schnell zwischen den Gräbern hindurch aus dem Friedhof hinaus und rannte den ganzen Weg bis zur Melancholy Lane, wo er schließlich atemlos unter einem Schild stehen blieb, auf dem stand:
Goddfrey Gaufridus
Sargmacher und Bestattungsunternehmer
Meisterbetrieb
Kapitel 4
Goddfrey Gaufridus
I
n einer Stadt, in der schon die Geburt als erster Schritt zum Sterben galt, darf man zu Recht behaupten, dass Goddfrey Gaufridus, Sargmacher und Bestattungsunternehmer, eine ganz besonders enge Beziehung zum Tod hatte.
Es war nicht immer sein Wunsch gewesen, sich so eingehend mit den Toten zu befassen, obwohl das Bestattungswesen im Allgemeinen als einträgliches Gewerbe betrachtet wurde. Im Alter von fünfzehn Jahren war Goddfrey von einer rätselhaften Krankheit heimgesucht worden, die ihm für fast drei Monate seine Sprech- und Bewegungsfähigkeit raubte. Er verbrachte diese drei Monate auf dem Rücken liegend im Bett. Seine Mutter und sein Vater, die begriffen, dass sein Zustand dauerhaft sein könnte, hielten es nach einer Woche für angebracht, das gewohnte Alltagsleben wiederaufzunehmen.
Goddfrey blieb kaum etwas anderes zu tun als zu grübeln (was waren das für Gedanken in diesen trübseligen Monaten!), und eines Nachts schlief er erschöpft ein und wachte nicht wieder auf. Am dritten Tag war seine Mutter fest davon überzeugt, dass er tot sei.
Sie rief Goddfreys Vater ins Zimmer und sie blieben länger als zehn Minuten bei ihm stehen. »Ich glaube, er ist hinüber«, sagte Mr Gaufridus, und weil der Doktor zu teuer war, wurde der Nachbar gerufen, um den Tod zu bestätigen. Danach bestellten sie das Begräbnis.
Wie es in jener Zeit häufig geschah – und zu Goddfreys Glück –, war der Bestattungsunternehmer alles andere als ehrlich; insgeheim verkaufte er den noch immer reglosen Körper des Jungen an die Schule für Anatomie und Operationsverfahren
Weitere Kostenlose Bücher