Silence
Lesestoff, den ich bevorzugte, fand ich hier nicht. Der Raum, die Bücher, die ganze Atmosphäre hatten etwas U nheimliches. Der modrige Geruch von altem Papier tat sein Übriges.
Es gibt Menschen, die überkommt ein ehrfürchtiges Gefühl, wenn sie eine Kirche betreten. Mir geht das so in einem Raum, in dem so viele Zeugen aus längst vergang enen Zeiten sich aneinanderreihen.
Im vorderen Bereich der Bibliothek befanden sich mehrere Tische. Kleine Tische für einzelne Personen und größere, an denen mehrere Schüler in Gruppen arbeiten konnten. Im hinteren Bereich standen die Regale mit Büchern, sortiert nach Fachbüchern, historische Literatur, moderne Literatur und Geschichte. Die meisten historischen Bücher stammten natürlich von europäischen Autoren; Emily Brontes Sturmhöhe (diese Exemplare hier enthielten zum Teil noch ihr männliches Pseudonym Ellis Bell), Mary Shelleys Frankenstein und Jane Austens Stolz und Vorurteil , um nur ein paar zu nennen.
Peter Ackroyds »Shakespeare: Die Biografie« sollte mir bei meinen Nachforschungen helfen. Eine Empfehlung der Bibliothekarin. Zusätzlich öffnete ich auf meinem Laptop ein Fenster mit William Shakespeares Biografie bei Wikipedia. Nicht dass ich Ackroyd nicht blind vertrauen würde.
Ich war so vertieft in meine Lektüre, dass ich gar nicht bemerkte, wie die Bibliothek sich langsam leerte. Verwundert blickte ich mich um. Die meisten Tische waren leer. Durch die kleinen Fenster, die weit oben, fast unter der hohen Decke des Raumes angebracht waren, konnte ich sehen, dass es draußen schon dämmerte.
Ich verließ die Bibliothek, als es schon dunkel war. Die Straßen von Silence waren menschenleer. Zum ersten Mal am heutigen Tag herrschte in meinem Kopf Stille. Ich genoss den Spätsommerabend. Nach dem Regen vom Nachmittag lag eine erfrischende Feuchte in der Luft. Eine kühle Brise blies mir ins Gesicht und ich sog sie tief ein. Erstes Laub schwebte tanzend von einer Eiche. Der Herbst hielt dieses Jahr schon früh Einzug in North Carolina.
Da mich zu Hause niemand erwartete, schlenderte ich gemütlich durch die kleine Stadt und hing meinen Gedanken nach. Der erste Schultag lief besser als erwartet. Meine Mitschüler waren durch die Neuen abgelenkt genug, um mir keinerlei Beachtung zu schenken. Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt, hatte Angst, die grauenhaften Bilder der toten Kelly immer und immer wieder in ihren Gedanken sehen zu müssen. Aber das war mir erspart geblieben. Es gab nur kurze Erinnerungsblitze gefolgt von Vorwürfen und meinem neuen Spitznamen Todesfee, wenn ihre Blicke doch auf mich trafen.
Ich mochte die Atmosphäre der kleinen Stadt. Sie wirkte beruhigend auf mich. In der Architektur von Silence spiegelte sich das alte Europa wieder. Es gab Häuser mit gotischen Bögen, weiße Gebäude mit dicken dunkelbraunen Dachbalken ( Mariana hatte mir einmal erklärt, dass man diese Bauart besonders im deutschsprachigen Raum fand) oder mediterran terrakottafarbene Gebäude.
Das bemerkenswerteste Gebäude in Silence war das Rathaus. Es war der Renaissance nachempfunden. Das Dach mit seinen wellenförmigen Turmgiebeln hatte die Form einer Zwiebel. Von jeder Spitze eines Giebels führte ein ebenholzfarbener Balken horizontal oder vertikal über die Front des Hauses. Unter der Spitze des Daches saß eine kunstvoll gestaltete goldene Uhr, die von zwei Löwen gehalten wurde, die zu jeder halben und vollen Stunde mit ihren Pfoten eine Glocke schlugen. Als Kind hatte ich Ewigkeiten vor dem Rathaus gestanden, nur um sehen zu können, wie die Löwen zum Leben erwachten und mit ihren Pranken die Uhrzeit verkündeten. Ich löste meinen Blick von den goldenen Löwen.
Hinter mir vernahm ich leise Schritte.
Noch jemand, der außer mir die abendliche Stimmung genoss. Vorsichtig öffnete ich meinen Geist. Vielleicht jemand, den ich kannte? Stille. Nur die Schritte, die langsam näher kamen. Ich wandte meinen Kopf. Die Straße war leer. Ein paar Blätter, die vom Wind getragen nahe dem Boden tanzten, bildeten einen Wirbel aus Feuerfarben. Der Fußweg war auf beiden Seiten von Laubbäumen gesäumt, die eine Allee bildeten. Hinter jedem Baum hätte sich jemand verstecken können.
Den Blick weiter nach hinten gerichtet, beschleunigte ich meine Schritte etwas. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich und ich erschauerte. Es gab keinen Grund, vor irgendetwas in Silence Angst zu haben. Die Kriminalitätsrate ging hier gegen null. Was mich als einzige
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