Silence
berauschender Geschwindigkeit rennen, wohin immer mich meine vier Pfoten tragen würden.
Mein Zimmer befand sich links der Treppe am Ende des Ganges und war eins der größten in der oberen Etage. Ich ließ mich auf das weiße Himmelbett fallen. Die kitschigen rosafarbenen Vorhänge hatte ich schon vor Ja hren entfernt. Jetzt war der Himmel nackt. Die rosa Wände hatten einen weißen Anstrich bekommen und nur noch einzelne Dekoelemente erinnerten an meine Prinzessinnenphase.
Ich schloss die Augen und dachte über Giovanni nach; sein Lächeln, die faszinierenden dunklen Augen, die hohen Wangenknochen, der Duft seiner Lederjacke. Unwillkürlich musste ich grinsen, als mir der Gedanke kam, was wohl Michelle davon halten würde, dass er mich nach Hause begleitet hatte.
Den ersten Schultag hatte ich überstanden. Die Kopfschmerzen waren kaum zu ertragen gewesen, aber ich war dankbar dafür, dass mich kaum jemand wirklich beachtet hatte.
Der Hass, den einige meiner Mitschüler mir noch vor den Sommerferien entgegengebracht hatten, wäre durch meine neue Gabe kaum zu ertragen gewesen. Schon allein die Vorstellung, wie es sich angefühlt hätte, all die Dinge, die sie über mich dachten, zu kennen, schnürte mir die Kehle zu. Gerne hätte ich rückgängig gemacht, was damals geschehen war.
Ich schüttelte die Bilder von mir ab, denn ich war noch nicht bereit, mich mit der Vergangenheit zu befassen. Aber das würde ich tun müssen, denn die neuen Mitschüler würden sie nicht lange von mir ablenken. Niemand könnte je etwas vergessen, wie das, was ich verursacht habe. Wenn ich die nächsten Wochen überstehen wollte, musste ich lernen, aus den Köpfen meiner Mitschüler heraus zu bleiben. Und nach Möglichkeit, ohne dass ich ständig virtuelle Mauern in meinem Kopf entstehen lassen musste.
Die Faszination, die die Brüder jetzt noch auf meine Klassenkameraden ausübten, würde bald der Gewohnheit weichen, und dann wäre ich wieder das Hauptthema auf der Silence High.
Kate hatte recht. Ich würde lernen müssen, mit diesem Fluch umzugehen. Nur wusste ich nicht wie. Meine Eltern um Hilfe zu bitten, war mir undenkbar. Die waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Vor ein paar Jahren hätte ich diese Möglichkeit noch in Betracht ziehen können. Aber seither war zu viel geschehen. Vielleicht war es ganz gut, dass ich die Gedanken meiner Eltern nicht lesen konnte. Ich konnte die Gedanken von einigen Einwohnern in Silence nicht lesen. Die meisten von ihnen waren Erwachsene. Vielleicht ha tten Erwachsene eine natürliche Barriere. Vielleicht hatten sie eine stärkere mentale Kontrolle über ihre Gedanken, so wie Kate und Giovanni auch. Das hatte den Vorteil, dass ich nicht wissen musste, was meine Eltern noch so alles vor mir geheim hielten. Und es hatte den Vorteil, dass ich, wenn ich mit meinen Eltern zuhause war, nichts als entspannende Ruhe in meinem Kopf wahrnahm.
Mariana hätte ich mich anvertrauen können. Sie war mehr Mutter für mich als die Karrierefrau, der das Ansehen der Familie über alles ging, auch über die Gefühle, die sie für ihre Tochter empfinden sollte.
Kate meinte, ich solle Geduld haben. Irgendwann würde es von alleine passieren und ich würde nicht mehr ständig irgendwelche Stimmen in meinem Kopf ertragen mü ssen. Gaben entwickeln sich. Ich hoffte so sehr, dass sie recht haben würde und ich diese Sache beherrschen würde, bevor ich medikamentenabhängig wäre. Meine tägliche Dosis an Schmerzmitteln war jetzt schon bedenklich hoch. Etwas, worauf ich gerne verzichtet hätte nach meinen Erfahrungen mit Drogen und Alkohol. Aber die Kopfschmerzen, die das Durcheinander an Stimmen verursachten, waren ohne Tabletten nicht zu ertragen.
Nachdem ich eine Weile gegrübelt hatte, beschloss ich etwas zu tun, was ich bisher vermieden hatte.
Ich trat in den Korridor vor meinem Zimmer und zog an der Kordel, die mit der Luke zum Dachboden verbunden war. Knarrend kam die schmale Leiter nach unten. Als ich klein war, hatte ich mich oft auf dem Dachboden versteckt, in den Kartons und Truhen gestöbert und die alten Fotoalben betrachtet.
Vorsichtig stieg ich die wacklige Leiter nach oben und tastete nach dem Zugband für die Glühbirne. Die Luft hier oben war stickig und warm. Es roch muffig und nach Mottenkugeln. Hierhin hatte meine Mutter alle Habseligkeiten von Mariana gebracht. Schon kurz nach ihrer Beerdigung hatte sie das Zimmer der Haushälterin ausgeräumt. Ich hatte sie gebeten, alles so zu
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